Gastkommentar

Ein Modell für Großbritannien?

Der Kurz-Prozess wird in Großbritannien genau verfolgt. Viele hätten auch Boris Johnson gern vor Gericht gesehen.

Sogar in London stößt der Prozess wegen Falschaussage gegen Ex-Kanzler Sebastian Kurz auf einiges Interesse. Ein solches Gerichtsverfahren gilt für viele als mögliches Modell, Politiker zur Verantwortung zu ziehen, denen eine Falschaussage vor dem Parlament vorgeworfen wird.

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Ein Ausschuss des britischen Parlaments kam dieses Jahr zu dem Schluss, dass der frühere Regierungschef das Parlament in die Irre geführt habe. Boris Johnson behauptete als Premierminister, während der Pandemie seien sämtliche Verordnungen und Empfehlungen in der Downing Street befolgt worden. Fotos und Unterlagen ließen daran Zweifel aufkommen, Johnson blieb jedoch bei seiner Version.

Ein Parlament muss über korrekte Informationen verfügen, um seiner demokratischen Funktion der Regierungskontrolle effektiv nachkommen zu können. Um das nachprüfen zu können, kann es Ausschüsse dafür beauftragen.

Vorwürfe und Rücktritte

Ein ständiger Ausschuss des britischen Unterhauses befasste sich mit dem Fall und arbeitete sich durch Hunderte Fotos und WhatsApp-Nachrichten, befragte Beteiligte unter Wahrheitspflicht. Boris Johnson erschien vor dem Ausschuss und wiederholte, dass während des Lockdowns alle Regeln seines Wissens nach eingehalten worden wären.

Der Ausschuss wird von einem Mitglied der Opposition geleitet, der seine Funktion zurücklegte, weil er überzeugt war, dass Johnson gelogen hatte. Daraufhin übernahm ein anderer Labour-Abgeordneter den Vorsitz, dem Johnson postwendend mangelnde Unabhängigkeit vorwarf. Die Regierung ist mehrheitlich im Ausschuss vertreten, aber nicht alle Konservativen sind Johnson-Anhänger.

Nach gut einem Jahr kam der Ausschuss zu dem Schluss, dass Johnson tatsächlich das Parlament angelogen hatte. Ihm wurde ein zunächst vertraulicher Entwurf des Ausschussberichts übermittelt. Darin empfahl der Ausschuss dem Plenum eine Suspendierung Johnsons vom Unterhaus für mehr als zehn Tage. Das hätte in der Folge eine Petition in seinem Wahlbezirk bewirken können, die, sofern erfolgreich, zu einer Nachwahl geführt hätte. Aller Voraussicht nach hätte Johnson diese verloren.

Wütend attackierte Johnson den Ausschuss öffentlich als anti-demokratisch und tobte, dass nicht der Funken eines Beweises gefunden wurde. Seine Unterstützer waren der Ansicht, dass das Vorgehen eine Rache für den Brexit gewesen wäre. Der Ausschuss setzte für den Bruch der Vertraulichkeit die Suspendierung schließlich mit 90 Tagen fest, aber Johnson war bereits zurückgetreten. Daraufhin empfahl der Ausschuss, ihm einen Parlamentspass, der früheren Mitgliedern normalerweise zusteht, zu verweigern.

Johnsons Rechtsberater beteuerte, dass der Ausschuss nur die Rolle der Anklage übernommen hätte. Vor Gericht würde ein Richter beide Seiten anhören und zu einer unparteiischen, fairen Entscheidung kommen. 

Regierung lehnte Reform ab

Selbst Gegner von Johnson waren der Ansicht, dass ein Gerichtsverfahren eine effektivere Strafe gewesen wäre. Derzeit hat eine parlamentarische Untersuchung keine rechtlichen Konsequenzen. Das britische Parlament stand einer Involvierung der Gerichte äußerst misstrauisch gegenüber.

Vor Kurzem fand eine Parlamentsdebatte darüber statt, ob dieses Prozedere geändert werden sollte, sodass die Täuschung des Parlaments einen eigenen Straftatbestand bildet. Die Regierung lehnte eine Reform ab, aber viele werden den Kurz-Prozess verfolgen, der vielleicht die eine oder andere Lektion bereithält.

Melanie Sully (1949) ist britische Politologin und lebt in Österreich.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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