Mein Freitag

Die Blätter und die schwere Erde im November

Leibl
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Was traurig klingt, kann tröstlich sein. Warum man Gedichte lesen und ins Laub schauen muss.

Wenn die Blätter fallen, gibt es zwei große Versuchungen. Die eine ist zu warten, bis alle herunten sind, um erst dann zum Rechen zu greifen. Die zweite ist, Rilke zu zitieren, obwohl man geschworen hat, es diesen Herbst zu lassen, weil jedes Jahr und so vorhersehbar und melancholisch. Diesmal gibt man beiden Versuchungen nach, auch wenn alte Blätter keinen Rascheleffekt mehr haben und der Rechen schwer wird. An Rilke kommt man sowieso nicht vorbei.

„Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde.“ Und schon ist der November erfüllt, nicht nur von Schwere, sondern auch von solchen Bildern. Von Sinn. „Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit“ (Rainer Maria Rilke, „Herbst“). Da schlafen wir dann drüber.

Das Vergehen und Verwandeln gehört zu Allerheiligen und diesen ersten Novembertagen genauso wie der Besuch in der Heimat. Die Wege sind dieselben geblieben, nur hat man hie und da vergessen, wo sie beginnen. Sie müssen wieder neu gegangen werden, damit man sich an Altes erinnert. Unvermeidlich ist das Foto an der Stelle mit der schönsten Aussicht. Viele Bilder gibt es von hier, über die Jahre hinweg in den verschiedensten Konstellationen. Nicht alle Menschen, die hier in die Kamera gelacht haben, leben noch. Es tut gut, über sie zu sprechen. Es muss nicht immer tröstlich sein, es kann auch traurig sein. Sie muss ja auch manchmal raus, die Traurigkeit, und danach kann es wieder tröstlich werden.

Hinter dem Friedhof leuchten die Weingärten in Gelb und Rot. So viel Laub, so ungewohnt spät im Jahr. Ich fahre den alten Schleichweg, das kommt nicht gut an, mit dem Wiener Kennzeichen. Die Leute am Wegrand schauen tadelnd. Sie kennen mich nicht mehr, ich grüße trotzdem.

E-Mails an: friederike.leibl-buerger@diepresse.com

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