Gastkommentar

Wie Polen seine Demokratie zurückgewann

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Der Sieg der demokratischen Opposition am 15. Oktober ist auf fünf teils zufällige Schlüsselfaktoren zurückzuführen.

Auf der Suche nach dem Königsweg, der es den Menschen in Polen ermöglichte, sich dem globalen Trend zu widersetzen und ihre autoritär-populistische Regierung aus dem Amt zu vertreiben, haben Befürworter der Demokratie weltweit ihre Aufmerksamkeit auf die jüngsten Parlamentswahlen in Polen gerichtet. Eine genaue Untersuchung des Wahlkampfs im Vorfeld der Abstimmung am 15. Oktober zeigt jedoch, dass der phänomenale Sieg der demokratischen Opposition durch ein unwahrscheinliches Zusammentreffen von fünf Schlüsselfaktoren ermöglicht wurde, die sich anderswo nicht so einfach wiederholen lassen.

Erstens spielte die Führung eine entscheidende Rolle. Das politische Comeback des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, der von 2007 bis 2014 polnischer Ministerpräsident war, hat die Opposition neu belebt. Ähnlich wie US-Präsident Joe Biden und der brasilianische Präsident, Luiz Inácio Lula da Silva, ist Tusk ein erfahrener Insider, der mit Jarosław Kaczyński einen autoritären Amtsinhaber erfolgreich herausgefordert hat.

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Kaczyński, der Vorsitzende der abgewählten Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), attackierte seine Gegner unerbittlich, insbesondere seinen langjährigen Erzfeind Tusk. Ein weniger bekannter Politiker ohne ein fest etabliertes Image in der Öffentlichkeit hätte den hartnäckigen Bemühungen der PiS möglicherweise nicht standgehalten, seinen Wahlkampf zu untergraben. Mit der Zeit schien es der PiS an einer Plattform zu fehlen, während Tusk begann, öffentliche Unterstützung zu gewinnen. Als die PiS im Mai versuchte, ein ungeheuerliches Gesetz durch das Parlament zu bringen, das Tusk von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen hätte, löste dies massive Proteste in Warschau aus, die von allen großen Oppositionsparteien unterstützt wurden.

Zweitens: Die Opposition ist nicht in einem Block, sondern mit drei Listen angetreten. Ihr Wahlerfolg könnte den bisherigen Expertenkonsens widerlegen, dass sich demokratische Kräfte angesichts einer autoritären Bedrohung zusammenschließen müssen. Diese Interpretation übersieht jedoch die enge Zusammenarbeit zwischen den linken, liberalen und Mitte-rechts-Gruppen, aus denen sich die Opposition zusammensetzt. Mit Disziplin und Einfallsreichtum ermöglichten es die Oppositionsparteien den Menschen in Polen, für Abgeordnete des Sejm (Unterhaus) in Mehrpersonenwahlkreisen, in denen das Verhältniswahlrecht gilt, nach ihrem Gewissen abzustimmen und so zwei Drittel der verfügbaren Sitze zu sichern.

Die Selbstbeherrschung und der kooperative Geist des linken Blocks waren besonders wichtig. Polens Progressive verzichteten auf Äußerungen, die die PiS gegen sie hätte verwenden können. Sie vermieden weitgehend Kritik am virulenten Rassismus und der flüchtlingsfeindlichen Haltung der PiS und schwächten sogar ihre übliche Kritik an der katholischen Kirche ab. Für den Dritten Weg, den christdemokratischen Block der Opposition, der sich unermüdlich darauf konzentrierte, sozialkonservative Wähler aus dem PiS-Lager zurückzugewinnen, war diese Zurückhaltung förderlich. Für die linken Parteien ihrerseits war sie allerdings nicht von Vorteil. Sie hatten Mühe, sich von Tusks zentristischer Bürgerplattform abzuheben, und schnitten schlechter ab als die anderen Oppositionsblöcke.

Pop-Hymne „Freedom, I Love“

Der dritte entscheidende Faktor war der Fokus auf die demokratische Zukunft Polens. Politikwissenschaftler beklagen oft, dass Bürgerinnen und Bürger den autoritären Charakter von Parteien wie der PiS erst erkennen, wenn es zu spät ist. Die polnischen Oppositionsparteien arbeiteten hart daran, dieses Problem zu überwinden, und Tusk und andere führende Politiker betonten wiederholt die potenziellen Folgen des demokratischen Niedergangs für die gewöhnlichen Leute in Polen, insbesondere für junge Wähler. Ein Lied mit dem eingängigen Refrain „Freedom, I Love And Understand“ wurde zur inoffiziellen Pop-Hymne des Wahlkampfes.

Um die Folgen der Aushöhlung der Demokratie zu veranschaulichen, konzentrierte sich die Opposition in ihrer Kampagne auf die zunehmend verzweifelte Lage von Frauen, die nach dem 2020 durch das von der PiS vereinnahmte Verfassungsgericht erlassenen Abtreibungsverbot mit Schwangerschaftskomplikationen konfrontiert sind. In den Wochen vor der Wahl traf der staatliche Mineralölkonzern Orlen dann die schlecht beratene Entscheidung, die Benzinpreise deutlich unter den Marktpreisen festzusetzen. Dies führte zu einer weit verbreiteten Knappheit, die Erinnerungen an die kommunistische Ära wachrief.

Das bringt uns zum vierten entscheidenden Faktor: Der Sturz des Regimes wurde durch seine eigenen Fehler beschleunigt. Unabhängige Medien deckten nur einen Monat vor der Wahl ein massives Korruptionssystem im Außenministerium auf, bei dem es um den Verkauf von Zehntausenden von Schengen-Arbeitsvisa an Migranten aus Asien und Afrika ging.

Das Abtreibungsurteil von 2020 war in gewissem Sinne auch eine Frage des Prinzips. Wie Trump war auch Kaczyński Berichten zufolge besorgt über die Auswirkungen des weitreichenden Abtreibungsverbots durch das Verfassungsgericht auf die Wahlen, aber die PiS stellte letztlich ihr Bekenntnis zum katholischen Dogma über die politische Zweckdienlichkeit.

Und schließlich sind Experten zwar frustriert über die uneinheitlichen Reaktionen der EU und der USA auf demokratische Rückschritte in Polen, Ungarn und der Türkei, doch der Wahlausgang in Polen zeigt, dass selbst sporadische Interventionen etwas bewirken können. Die Entscheidung der EU, mehr als 35 Milliarden Euro an Pandemie-Hilfsgeldern für Polen zurückzuhalten, hat die PiS daran gehindert, Wählerinnen und Wählern staatliche Leistungen zukommen zu lassen. Diese Maßnahme war ausgesprochen symbolisch und schürte Ängste vor einem möglichen Austritt Polens aus der EU, sollte die PiS an der Macht bleiben.

Jetzt nicht Hände in den Schoß

Die erfolgreichen Bemühungen, die Übernahme des unabhängigen, in amerikanischem Besitz befindlichen Senders TVN durch die PiS im Jahr 2021 zu verhindern, spielten ebenfalls eine entscheidende Rolle. Ohne das professionelle, ansprechende und weithin zugängliche Programm von TVN hätten wichtige Informationen über die Agenda der Opposition und die zahlreichen Skandale der PiS möglicherweise nicht genügend Wähler erreicht.

Polen ist zum Leuchtturm für andere demokratische Bewegungen geworden, die mit populistischen Regierungen konfrontiert sind. Dennoch ist sein Beispiel kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Das Zusammentreffen günstiger und einzigartiger Bedingungen, das die polnische Opposition zum Sieg geführt hat, unterstreicht die Hindernisse, mit denen prodemokratische Parteien konfrontiert sind, die in Systemen agieren, die auf die Amtsinhaber zugeschnitten wurden. Bis zu den letzten Tagen des Wahlkampfs schien es möglich, dass die PiS einen knappen Sieg erringen würde. Hätte sie sich durchgesetzt, wäre keiner der noch verbleibenden Wege des demokratischen Wettstreits mehr sicher gewesen.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow
Copyright: Project Syndicate, 2023. www.project-syndicate.org

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Der Autor:

Maciej Kisilowski ist außerordentlicher Professor für Recht und Strategie an der Central European University in Wien.

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