Wirtschaftskrise

Argentiniens „wichtigste Wahl seit 100 Jahren“

Noch vor ein paar Monaten hatte Milei niemand auf dem Zettel.
Noch vor ein paar Monaten hatte Milei niemand auf dem Zettel. APA/AFP/Luis Robayo
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Inmitten einer bleischweren Wirtschaftskrise wählen die Argentinier einen neuen Präsidenten. Der Libertäre Javier Milei und Finanzminister Sergio Massa ringen um die Macht.

Buenos Aires. Nur in einem werden sich die Argentinier am Sonntag einig sein: in der Erleichterung, dass der längste, teuerste und schmutzigste Wahlkampf der Landesgeschichte endlich ein Ende hat. Zuerst stritten im März die Peronisten und Bürgerlichen intern um Kandidaturen. Dann folgten im August Vorwahlen, die überraschend Javier Milei gewann, der absolute Außenseiter. Es ist die erste Runde der Präsidentschaftswahl gefolgt, in der just der Vertreter einer Regierung siegt, die das Land in einer seiner schwersten Krisen regiert. Finanzminister Sergio Massa eroberte fast 37 Prozent der Stimmen, während Milei mit knapp 30 Prozent Zweiter wurde.

Die bürgerliche Koalition Gemeinsam für den Wandel, die lang wie der sichere Sieger ausgesehen hat, ist ausgeschieden – und steht nun vor der Spaltung. Das ist die Konsequenz aus der klaren Zusage, die der liberale Ex-Präsident Mauricio Macri gegenüber Milei gegeben hat. Er will den Libertären unterstützen, wenn sich dieser mäßigt.

Das hat Milei bisher beherzigt. Seine Generalkritik gegen die „Kaste“ aus korrupten Politikern, gierigen Gewerkschaftern, manchen Unternehmen und gekauften Journalisten reduzierte Milei nun zum Kampfruf gegen den Kirchnerismus, also jenen Linkspopulismus mit kleptokratischen Zügen, der seit 2007 keine neuen regulären Arbeitsplätze mehr generierte, aber dafür den Staat zu einer Arche machte, um dreieinhalb Millionen Linientreue zu versorgen. „Das ist die wichtigste Wahl in den letzten 100 Jahren“, das war Javier Mileis erster Satz, wo auch immer er auftrat. Es gehe um „Hoffnung auf einen grundsätzlichen Wandel oder die Fortsetzung der Dekadenz“, sagte Milei in der wichtigsten TV-Debatte.

Der feurige Ex-TV-Mann

Dort erlebten die Argentinier einen Milei, der vor allem versuchte, sich vom redegewandten, präzise vorbereiteten und skrupellosen Massa nicht provozieren zu lassen. Vor seinem Eintritt in die Politik hatte Milei als TV-Kommentator oft seinem cholerischen Temperament Lauf gelassen, was ihm den leidenschaftlichen Zuspruch vorwiegend männlicher und junger Argentinier sicherte.

Massa vermochte es in dem ­Duell nicht, den selbst erklärten „Anarcho-Liberalen“ explodieren zu lassen, aber er konnte zumindest erreichen, dass der defensive Milei ihn nicht direkt auf die eklatanten Schwachpunkte der Regierung ansprach: 150 Prozent Inflation, eine maßlose Korruption, die sich in mehreren drastischen Skandalen manifestierte. Und, erst kürzlich bekannt geworden: ein riesiges Abhörnetz, das fast 1200 Spitzenvertreter aus Politik, Wirtschaft, Sport und Schaugeschäft ausspionierte. In diesen parallelen Geheimdienst sind laut Staatsanwaltschaft enge Mitarbeiter der Ex-Präsidentin Kirchner verwickelt.

Dass Massa trotzdem am Sonntag noch erhebliche Siegchancen hat, liegt zum einen an einer beispiellosen Serie von Steuergeschenken, die er mit der Notenpresse finanziert. Und zum anderen an einer Angstmache bisher unbekannten Ausmaßes. Gouverneure und Bürgermeister versicherten, Löhne nicht mehr zahlen zu können, sollte Milei siegen. Angestellte der Staatsairline (die jeden Tag zwei Millionen Dollar Verlust macht) bekommen von ihren Chefs mitgeteilt, dass ihre berufliche Zukunft an der Urne entschieden werde. In vielen Oberschulen bestürmen Lehrer die 16-Jährigen, ja nicht „den Irren“ zu wählen, der Schulen und Unis kostenpflichtig machen werde. Und Intellektuelle warnen vor einem Rückfall in die 1970er-Jahre, als die letzte Militärdiktatur Tausende Gegner gefoltert und umgebracht hat.

Beispiellose Steuergeschenke

Die letzten Umfragen deuten auf ein enges Rennen hin. Milei hat vor Betrug gewarnt. Tatsächlich bevorteilt das Wahlsystem, in dem jede Partei eigene Stimmzettel in die Wahllokale mitbringen und diese dort bewachen muss, die Bewegung mit der stärksten Struktur. Und das sind stets die Peronisten. Um zu gewinnen, benötigt Milei nicht nur einen Großteil jener 8,2 Millionen Stimmen, die in der ersten Runde für Mitte-rechts abgegeben wurden. Er braucht auch die Hilfe der Macri-Bewegung in den Wahllokalen. Denn, so sagte dereinst ein peronistischer Führer: „Entscheidend ist nicht die Stimmabgabe. Es ist die Auszählung.“

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