Interview

„Wir schauen uns beim Scheitern zu“

„Die Rechnung kommt mit starker Verzögerung“, sagt Reinhard Steurer, hier auf einer Demo.
„Die Rechnung kommt mit starker Verzögerung“, sagt Reinhard Steurer, hier auf einer Demo.Markus Zahradnik
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Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik, erklärt im „Presse am Sonntag“-Interview, weshalb Verharmloser und Verleugner derzeit reiche Ernte einfahren.

Die Presse: Halbzeit bei der COP28. Knapp 100.000 Leute sollen dort akkreditiert sein. Ist das noch sinnvoll?

Reinhard Steurer: Das ist ein Wanderzirkus, der mehr mit Show als mit Substanz zu tun hat. Tragisch ist, dass an der Show sehr viele teilnehmen, die kein Interesse an der Problemlösung haben, im Gegenteil: Die größte Delegation wird von der Fossilindustrie gestellt – die Drogendealer kümmern sich um die Süchtigen. Dieses Format ist nicht sinnvoll, aber ohne globale Klimakonferenzen geht es auch nicht.

Waren Sie auf einer COP?

Nein, noch nie. Und ich habe nicht die Absicht, es sei denn, sie kriegen die Kurve und es wird eine ernsthafte Veranstaltung. Ich leide aus der Ferne schon genug, ich brauch das nicht auch noch aus der Nähe. Die COPs haben nach bald 30 Jahren noch immer nicht die Ernsthaftigkeit erreicht, die es längst brauchen würde.

Auf welchen Wegen kann das Problem denn überhaupt gelöst werden?

Mehr politische Ernsthaftigkeit bei Klimakonferenzen kommt entweder von unten, oder sie kommt nicht. Die COPs stehen am Ende einer langen „politischen Nahrungskette“. Wenn national Scheinklimaschutz vorherrscht, dann kann es bei globalen Klimakonferenzen nicht anders sein. Das heißt auch: Diese Konferenzen haben Potenzial, aber um das zu heben, müsste der Druck in möglichst vielen Ländern steigen. Dann würde auch bei COPs über Druckmittel und Sanktionen bei Zielverfehlungen geredet werden. Beim Freihandel läuft das schon längst so. Da wurden verbindliche Regeln vereinbart und Verstöße werden geahndet. So macht man es, wenn ein Thema politisch wichtig ist. Weil Klimaschutz nicht annähernd so wichtig ist wie Freihandel, werden wir schon bald über das 1,5-Grad-Limit gehen.  

Rein rechnerisch wäre es schon möglich, die 1,5 Grad einzuhalten …

… wenn Emissionen innerhalb von wenigen Jahren auf null fallen würden, ja. Politikwissenschaftlich betrachtet ist das schlicht unmöglich, eine Illusion.

Was ist im Moment zu erwarten?

Beim derzeitigen Kurs deutet alles darauf hin, dass wir auch über die Zwei-Grad-Grenze schießen werden. Mit mehr Extremwetter wird es in den Gesellschaften immer unruhiger werden, und der Unmut wird vor allem bei den Jüngeren zunehmen. Sie haben ja am meisten zu verlieren. 

Zuletzt hat sich jemand auf die Fahrbahn betoniert. Werden die Proteste intensiver?

Schwer zu sagen. Mehrere Szenarien sind denkbar: Der Protest geht so dahin und geht irgendwann ins Leere, die Leute fangen an zu resignieren. Oder der Protest wird größer und lästiger.

Es gibt ein Video einer weinenden Mutter, die ihr Kind nicht in die Schule bringen kann, weil sie im Stau steckt. Wann ist der Punkt erreicht, an dem Sie sagen, dass Sie eine Form des Protests nicht mehr mittragen können?

Solche Situationen tun weh. Natürlich stellt sich immer die Frage, inwiefern Proteste der Sache auch kurzfristig nützen. Je näher Wahlen kommen, umso wichtiger ist diese Frage. Ich würde es so zusammenfassen: Ich glaube nicht, dass der maximale Stau der wirksamste Protest ist. Proteste können in der Regel auch nichts erzwingen, sondern einen Diskurs anstoßen. Im Idealfall lernen wir dadurch. Somit sollten Proteste schon ein gewisses Verständnis, ein gewisses Mitgefühl dafür generieren, dass wir speziell jungen Menschen die Zukunft ruinieren. Wenn dadurch der Gedanke aufkäme: „Verdammt, die haben eigentlich recht mit ihren Forderungen“, dann wäre schon viel gewonnen. Aber natürlich darf eine von Fossilenergie abhängige Gesellschaft diesen Gedanken kaum zulassen, denn sonst müsste man vieles hinterfragen. Das ist unser Dilemma.

Was bedeutet das nun konkret für Klimaproteste? 

Die große Frage ist: Wie können Proteste ein Umdenken in der Gesellschaft fördern? Aus meiner Sicht wäre es an der Zeit, neue Formate zu probieren, auch weil sich Dinge, die man hundertfach wiederholt, totlaufen. Zum Glück sind Aktivistinnen unglaublich kreativ. Ich staune oft, und manchmal denke ich mir natürlich auch: Oje. Aber ohne Irritationen und somit auch Störungen wird es nicht gehen. Sie sollten allerdings zum Nachdenken anregen. Das scheint gerade sehr schwer zu sein.

Ist die Klimabewegung gerade dabei zu scheitern?

Das wäre ein grober Trugschluss. Wir schauen derzeit nicht der Klimabewegung, sondern uns als Gesellschaft beim Scheitern zu. Entweder eine Mehrheit erkennt, dass wir umdenken und viel ändern müssen, oder das wird böse enden. Insofern ist Protest mitten in der Gesellschaft schon gut aufgehoben.

Und was ist die Rolle der Wissenschaft in dieser Situation?

Ich bin für mich zum Schluss gekommen, dass es angesichts einer eskalierenden Klimakrise nicht mehr reicht, den klassischen Aufgaben eines Wissenschaftlers nachzugehen. Wir wissen am meisten über die Dramatik des Problems und sind der leiseste Akteur im politischen Diskurs. Um das zu ändern, haben wir neue Formen der Wissenschaftskommunikation gewählt und sind selbst auf die Straße gegangen, zuerst zu angemeldeten Demos, dann haben sich mehr und mehr Wissenschaftlerinnen auch hinter störende Proteste gestellt, und zuletzt haben wir dem Figl-Denkmal die Augen verbunden, um zu symbolisieren, dass die ÖVP den 2019 anerkannten Klimanotstand nicht mehr sieht. Die Hoffnung ist, dass solche Aktionen mehr Aufmerksamkeit finden als ein Artikel in einer Fachzeitschrift oder eine normale Pressekonferenz. Das war wohl auch so. Eines kann ich Ihnen aber versichern: All das macht keinen Spaß. Für uns Wissenschaftler ist all das weit außerhalb unserer Komfortzone. Es ist Ausdruck unserer Verzweiflung.

Das Klimathema unterliegt wohl Schwankungen, so wie alle Umweltthemen im Laufe der Zeit. Wo stehen wir gerade und wie geht das weiter?

Ja, beim Klimaschutz hat es bislang nur 2008 und 2019 eine Aufbruchsstimmung gegeben. Beide Male ist diese durch akutere Krisen beendet worden. 2009 war das die Finanzkrise und 2020 war es die Pandemie, gefolgt von Krieg und Inflation. Ich kann gut verstehen, dass die Mehrheit aktuell „krisenmüde“ ist und den angenehmen Klimalügen mancher Parteien nachläuft. Das Problem ist halt: Der Physik ist das egal, und uns läuft wertvolle Zeit davon. Entweder wir sind jetzt mehrheitlich zu einem Umdenken bereit, oder die Klimakrise wird so sehr eskalieren, dass chaotische Zustände nicht mehr verhindert, sondern nur noch verzögert werden können.

Trotzdem wird die Sinnhaftigkeit vieler Ziele und Maßnahmen bezweifelt. Warum das?

Ich glaube nicht, dass die Sinnhaftigkeit der Ziele bezweifelt wird, eher die Machbarkeit. Je näher Ziele kommen, umso klarer wird: Verdammt, es ist schwieriger als gedacht. Also werden Ziele abgeschwächt. Kann man machen, es ist im Fall der Klimakrise halt tödlich. Die Wahrscheinlichkeit angemessener Lösungen wird vermutlich dann größer, wenn der Leidensdruck steigt. Da muss man aufpassen, dass es nicht zynisch klingt, aber es ist wohl so: Wir kommen dann in die Gänge, wenn wir merken, jetzt wird es ernst, nicht wenn Wissenschaftler sagen: „In einigen Jahren wird es ernst.“ Bis dahin haben wir zehn andere Probleme.

Gibt es auch einen Mangel an Wissen?

Wissen gibt es genug. Problematisch ist das Nicht-wissen-Wollen. Die Menschen haben ein Gespür dafür, dass das Thema unangenehm ist. Es stellt ja unseren Lebensstil infrage. Sobald du mehr davon weißt, wird es schwierig, den fossilen Alltag zu genießen. Mit viel Wissen zur Klimakrise fühlt es sich nicht mehr richtig an, mit einem SUV herumzufahren oder in den Urlaub zu fliegen. Davor kann man sich einfach schützen, indem man die angenehmen Märchenerzählungen der Verharmloser und Verleugner glaubt. Die findet man längst nicht nur in der FPÖ, sondern auch in der ÖVP. Deren Ansagen sind so beliebt, weil man so am wenigsten ändern muss. Das scheint einer Mehrheit der Gesellschaft zu gefallen. Angesichts der Faktenlage ist das Selbstbetrug, eine Art Gesellschaftsversagen.

Wie lässt sich dieser Teufelskreis aufbrechen?

Medien spielen da eine wichtige Rolle. Während der Coronapandemie wusste eine große Mehrheit, was Inzidenzen sind und wann es ernst wurde. Fast niemand weiß, was 420 ppm CO2 sind und was das bedeutet. Dabei ist das eigentlich die wichtigste Kennzahl unserer Zeit. Das ist für mich ein klares Indiz dafür, dass die Klima-Berichterstattung sehr oberflächlich ist und oft sogar in die Irre läuft. Darüber, dass sogar von Qualitätsmedien immer wieder Desinformation zu einzelnen Themen wie Wasserstoff oder Windkraft verbreitet wird, reden wir besser erst gar nicht.

Weil Sie Inzidenzen erwähnt haben: Was unterscheidet die Klima- von der Coronakrise?

Bei Corona wurde entschieden gehandelt. Aus gutem Grund: Nicht zu handeln wäre in kürzester Zeit bestraft worden – mit überlaufenden Spitälern und Übersterblichkeit. In der Klimakrise kann man das Nichtstun aussitzen, weil die Rechnung nur mit starker Verzögerung kommt. Langsam geht die Ära des Anschreibens zwar zu Ende. Kleine Teilzahlungen werden bereits fällig, aber die große Rechnung kommt erst, wenn unsere heutigen Regierungen längst nicht mehr im Amt sind. Genau deshalb würde es so dringend eine Mehrheit brauchen, die hier und heute eine bessere Klimapolitik einfordert, am Wahltag und darüber hinaus.

Zur Person

Reinhard Steurer wurde 1971 bei einer CO2-Konzentration von 326 ppm geboren. Er studierte Politikwissenschaften an der Universität Salzburg. Das Magisterstudium schloss er 1997, das Doktoratsstudium 2001 und einen Master in Public Policy an der University of Maryland/USA im darauffolgenden Jahr ab. Seit 1997 forscht Steurer zu umweltpolitischen Themen mit Schwerpunkt Klimapolitik. 2013 habilitierte er an der Universität für Bodenkultur in Wien. Dort arbeitet er seit 2008 am Institut für Wald-, Umwelt- und Ressourcenpolitik. Das Gespräch mit der „Presse“ fand im November 2023 in Wien statt. (CO2-Konzentration von 421,38 ppm über Manua Loa). Die lokale Treibhausgas-Konzentration dürfte deutlich höher als über Hawaii gewesen sein.

Reinhard Steurer: „Die Rechnung kommt mit starker Verzögerung.“
Reinhard Steurer: „Die Rechnung kommt mit starker Verzögerung.“Jana Madzigon

422,43 ppm

Den täglichen Taktschlag kann die interessierte Menschheit seit März 1958 hören, was da in der Atmosphäre abläuft, ist allerdings viel länger bekannt. Nachdem im 19. Jahrhundert immer wieder Wissenschaftler den Zusammenhang mit rauchenden Schornsteinen und dem Gehalt von Kohlendioxid hergestellt haben, hat kurz vor der Wende ins 20. Jahrhundert der Schwede Svante Arrhenius 1896 als Erster die These formuliert, dass es einen vom Menschen gemachten Treibhauseffekt gibt: je mehr CO2, desto wärmer wird die Atmosphäre. Die These von damals ist die Gewissheit von heute. Seit März 1958 liefert die Messstation auf dem Mauna Loa, einem Vulkan auf Hawaii, die Daten. Begonnen hat die Messreihe damals mit 315 parts per million (ppm). Für die Zeit davor weiß die Wissenschaft aus eingeschlossenen Luftbläschen in Eisbohrkernen den CO2-Gehalt recht genau zu bestimmen, nämlich bei 290 bis 295 ppm (im Jahr 1850). Seither steigen die Werte und die Zunahme beschleunigt sich, und das immer stärker. Der bisher höchste Wert ist heuer mit 422,43 ppm gemessen worden, am 17. November 2023.

Kohlendioxid fällt beim Treibhauseffekt am stärksten ins Gewicht. Dies deshalb, weil davon die größten Mengen in die Atmosphäre abgegeben werden. CO2 hat eine Verweildauer von 120 Jahren. Distickstoffmonoxid (N2O), besser bekannt als „Lachgas“, hat eine Verweildauer von 150 Jahren, aber (über einen Zeitraum von 20 Jahren) das 270-fache Treibhauspotenzial (im Vergleich zu CO2) und auf 100 Jahre das 290-fache. Methan (CH4) bleibt nur zehn Jahre in der Atmosphäre und hat auf 20 Jahre die 63-fache Treibhauswirkung und auf 100 Jahre die 21-fache. Der Einfachheit halber wird das Treibhauspotenzial in CO2-Äquivalent angegeben – außer Streit zu stellen ist dabei nur der Zeitraum; erst dann sind Daten aussagekräftig.

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