Gastkommentar

J’accuse – Ich klage an

Ein offener Brief an all die Antisemiten, all die Fundamentalisten, diejenigen, die den Terror finanzieren und viele mehr.

„J’accuse“ war im Jahr 1898 der Titel eines offenen Briefs des Schriftstellers Émile Zola an Félix Faure, damals Präsident der Französischen Republik, um diesen und die breite Öffentlichkeit über die wahren Gründe der Dreyfus-Affäre zu informieren. Sein offener Brief erschien in der linksliberalen Tageszeitung „L’Aurore“. Damals wurde der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus aufgrund von falschen Anschuldigungen wegen angeblicher Spionage zugunsten des Deutschen Reichs degradiert und auf die Teufelsinsel vor Französisch-Guayana verbannt. Hauptmann Dreyfus wurde zwar später rehabilitiert, doch das konnte antijüdische Ausschreitungen des Pöbels in Paris, der Provinz und sogar in Algerien nicht verhindern. Ein Pöbel, der „Tod den Juden“ schrie, jüdische Geschäfte zerstörte und Unschuldige tötete. Diese schlimmen Ereignisse bewogen den damaligen Korrespondenten der Wiener „Neuen Freien Presse“, Theodor Herzl, sich ernsthaft mit dem Antisemitismus zu beschäftigen und sein Buch „Der Judenstaat“ zu schreiben.

Nichts gelernt

Wer heute die antijüdischen, antisemitischen und antizionistischen Demonstrationen in aller Welt sieht, erkennt eine Ähnlichkeit zu den Ereignissen in Frankreich vor 125 Jahren.

In der Tradition von Émile Zola rufe auch ich: „J’accuse“.

Ich klage an: All die Antisemiten, Personen, die nichts aus der Vergangenheit gelernt haben und weiterhin Hass gegen Unschuldige verbreiten. Viele von ihnen beschimpfen die Zionisten und meinen in Wirklichkeit die Juden in aller Welt.

All die religiösen Fundamentalisten, die Hass im Namen Gottes predigen und oftmals ihre eigene Jugend mit Versprechen auf jeweils 72 Paradiesjungfrauen in den Tod schicken. Diese Fanatiker lehren in Schulen und Moscheen, sie predigen den Hass gegen „Ungläubige“ und bekräftigen in ihrer Verfassung (siehe: Hamas-Charta Artikel 7) die angebliche Pflicht von Muslimen, Juden zu töten.

All diejenigen, die Bereitschaft zeigen, Lügen der Fanatiker zu glauben, einfach weil sie immer noch ihre uralten Vorurteile gegen Juden verinnerlicht haben. Sie dämonisieren Israel (und die Juden), delegitimieren Israels Recht auf Existenz und kritisieren Israel für alles Übel der Welt, auch im Sinne eines Doppelstandards der Kritik. Sie halten sich aber stets vornehm zurück, wenn es um Kritik an Schurkenstaaten wie Russland, Iran oder Syrien geht, und üben nur Kritik an der einzigen Demokratie im Nahen Osten (siehe: „The Economist“, internationaler Demokratie-Index).

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So kam es dazu, dass sich von 2015 bis 2022 insgesamt 140 UNO-Resolutionen allein gegen Israel richteten, während alle anderen Länder der Welt gerade 68 Mal mit derartigen Beschlüssen belegt wurden.

All diejenigen, die das Recht des jüdischen Staates bestreiten, sich zu verteidigen. Sie wissen nicht oder wollen nicht wissen, dass Israel in den Jahren 1948, 1967 und 1973 Kriege gegen übermächtige Feinde führen musste, um zu überleben, und jetzt zu einem Krieg gegen die Mörderbanden der Hamas gezwungen wurden.

All diejenigen, die nie bereit waren, palästinensische Flüchtlinge in muslimischen Ländern zu integrieren, und sie auf ewig in Flüchtlingslagern gefangen halten; die auch nicht zugeben wollen, dass im Jahr 1948 rund 900.000 arabische Juden aus ihren Ländern vertrieben wurden. Sie alle wurden vor allem in Israel, aber auch in Frankreich integriert.

Alle, die Terror finanzieren

All diejenigen, die den Terror der Jihadisten weltweit bewusst oder unbewusst finanzieren. Selbst demokratische Staaten unterstützen mit hohen Summen, die humanitären Zwecken dienen sollen, völlig blauäugig die Aufrüstung der Hamas, die diese Geldspenden für Raketen und Tunnels missbraucht, anstatt die Lebensverhältnisse der eigenen Bevölkerung zu verbessern.

All diejenigen, die nur von Israel „Verhältnismäßigkeit“ im Krieg verlangen. Von anderen Kriegsparteien, wie zum Beispiel Russland oder der Türkei, wird das nicht verlangt. Doch was bedeutet „Verhältnismäßigkeit“? Scheinbar darf Israel seine Luftwaffe nicht einsetzen, um Stellungen der Hamas, die sich hinter Zivilisten versteckt, auszuschalten. Man verlangt nur von Israel, die eigenen Soldaten im reinen Häuserkampf zu opfern.

All die progressiven Studenten

All die (angeblich) progressiven Studenten und Organisationen, die „Befreiungsorganisationen“ lieben und mit ihnen paktieren, oftmals Fanatiker, die grausam gegen Frauen, Homosexuelle, gemäßigte Muslime und Demokraten vorgehen und auch vor Mord an „Ungläubigen“ nicht zurückschrecken. Gruppierungen, die ganz offen die Auslöschung Israels fordern. Auch die Regierungschefs, die die Hamas ebenfalls nicht als Terror-, sondern als „Befreiungsorganisation“ verherrlichen. Politiker, die in ihrer eigenen Umgebung Menschenrechte massiv verletzen und Minderheiten verfolgen lassen.

All die Regierungen, die keine Bereitschaft zeigen, Demokratiefeinde effektiv zu bekämpfen und somit die Zukunft Europas aufs Spiel setzen.

Ich klage aber auch Politiker an, die, um an der Macht zu bleiben, einen Pakt mit religiösen Fanatikern und Ultranationalisten schließen, sich dadurch von ihnen abhängig machen.

Als Émile Zola 1898 seine Stimme gegen ein himmelschreiendes Unrecht erhob, konnte er sich sicher nicht vorstellen, dass es in ferner Zukunft wieder notwendig sein würde, gegen Fanatismus, Jihadismus und Antisemitismus in Wort und Tat vorzugehen. J’accuse.

Theodor Much (*1942 in Tel Aviv) lebt seit 1957 in Wien und ist Arzt und Gründer der religiös-liberalen Gemeinde Or Chadasch Wien. Sachbuchautor zu Themen wie Antisemitismus, Antijudaismus und Fundamentalismus.

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