Filmkritik

Berlinale-Sieger „Auf der Adamant“: Utopie statt Psychiatrie

Alles ist einnehmend auf der „Adamant“, auch Humor und Reflexionsvermögen der „neurodiversen“ Menschen, die hier an Board gehen.
Alles ist einnehmend auf der „Adamant“, auch Humor und Reflexionsvermögen der „neurodiversen“ Menschen, die hier an Board gehen.Grandfilm
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Der Berlinale-Sieger „Auf der Adamant“ porträtiert ein einnehmendes Gegenmodell zur „geschlossenen Anstalt“ – ein Hausboot auf der Seine als psychiatrisches Tageszentrum.

Am Ufer der Seine, mitten in Paris, schwimmt ein Haus, das neugierig macht. Auf den ersten Blick mutet es etwas wunderlich an, aber auch auf widersprüchliche Weise anziehend, wie eine nette Festung: Mit elektrisch hebbaren Holzfensterläden und einem langen, flussseitigen Balkon, der bestückt ist mit Blumentöpfen, Plastiksesseln und orangefarbenen Rettungsringen. Uneingeweihte Passanten könnten es für ein hippes Lokal halten, vergleichbar mit dem Wiener Badeschiff. Woran die „Adamant“ – so der Name des Hausboots – wohl nur die wenigsten erinnert, ist das, was es tatsächlich ist: Ein Tageszentrum für psychisch beeinträchtigte Menschen.

Vielleicht ein Grund dafür, dass der französische Dokumentarveteran Nicolas Philibert einen Film dort gedreht hat. Der 72-Jährige, bekannt für einfühlsame Porträtwerke wie die Dorfschulwürdigung „Sein und Haben“ (2002), hat in seinen Annäherungen an soziale Einrichtungen stets einen hoffnungsvoll zugewandten Ansatz verfolgt. Schon als er sich 1996 in „Die kleinste Kleinigkeit“ einer Psychiatrie im Loiretal widmete, legte er den Fokus weniger auf die Beschwerden ihrer Patienten als auf die Proben für ein Bühnenstück, das dort jährlich von selbigen aufgeführt wurde.

Entsprechend ist auch „Auf der Adamant“, derzeit im Kino, dezidiert positiv gestimmt. Viele große Dokumentarfilme, die den Umgang der Gesellschaft mit „Geisteskranken“ in den Blick nehmen, legen den Finger in die Wunde dysfunktionaler „Heilanstalten“: „Titicut Follies“ (1967) von Frederick Wiseman, „San Clemente“ (1980) von Philiberts Landsmann Raymond Depardon, „Til Madness Do Us Part“ (2013) von Wang Bing. Philibert versucht hingegen, am Beispiel des relativ jungen „Adamant“-Projekts das Modell einer möglichen Psychiatrie-Utopie zu skizzieren.

Alltag mit nüchterner Empathie

Und zwar auf gewohnt unaufdringliche Art, ohne verkappte PR-Testimonials oder meinungsleitende Off-Stimmen, wie sie bei zeitgenössischen Netflix-„Dokus“ gang und gäbe sind. Stattdessen verlässt sich Philibert ganz auf die natürliche Wirkung des Ortes und seiner illustren Teilzeitbewohner, deren Alltag er und sein Filmteam mit nüchterner Empathie zur Anschauung bringen.

Was Sinn macht; schließlich ist die Aura der „Adamant“ unmittelbar einnehmend. Das holzvertäfelte Interieur des schwimmenden Horts – umspielt vom sanften Tageslicht, das durch großzügige Glasfronten einfällt – strahlt ansteckende Ruhe aus. Hier nehmen Menschen, die man heute „neurodivers“ nennen würde, an (vornehmlich künstlerischen) Workshops teil, zusammen und auf Augenhöhe mit Betreuern und angehenden Krankenpflegern.

Philibert filmt die Besucher der „Adamant“ im Gespräch, beim Kaffeetrinken, bei der Kreativarbeit und bei Gruppendiskussionen. Er lässt sie erzählen, von ihren Erfahrungen, ihren Träumen und Ängsten. Das Pathologische in ihrer Rede wird vom Schnitt weder betont noch verschleiert, es ist einfach da. In den Vordergrund rückt der Film indes vor allem den Humor und das ausgeprägte Selbstreflexionsvermögen seiner Protagonisten, die freimütig über ihre Psychosen sprechen, über den Unterschied zwischen ihren stabilen und ihren labilen Geisteszuständen. Auch über die Notwendigkeit von Medikamenten und die Gefahr, ins Wahnhafte abzurutschen.

Zugleich stellt „Auf der Adamant“ den Wahn nicht als Fehler dar, den es wegzutherapieren gilt; gerade im Fokus auf die vielgestaltige Kunsttätigkeit seiner Hauptfiguren (Musik, Malerei, Poesie) hebt der Film die Normalität hervor, die eine „verrückte“ Weltsicht in bestimmten Kontexten annehmen kann. Ein kulturbeflissener „Adamant“-Stammgast, der besessen ist von Wim Wenders’ „Paris, Texas“, beklagt sich an einer Stelle darüber, das Roadmovie habe die private Geschichte seines Bruders geklaut und nach Amerika verpflanzt – „aber Wenders, dieser Halunke, hat das nie erwähnt“. Als Filmfan denkt man sich: Ist das nicht einfach nur die Extremform passionierten Cineastentums? Und überhaupt: Tragen wir nicht alle „Empfindungen“ in uns, die „uns verrückt machen können“, wie es in einem Song heißt, den ein anderer Adamantist in der Eröffnungsszene des Films inbrünstig zum Besten gibt?

Passt zum „Mental Health“-Hype

Keine Angst: „Auf der Adamant“ verharmlost psychische Krankheiten nicht. Philiberts Film macht bloß Ähnlichkeiten zwischen „uns“ und „denen“ kenntlich, anstatt die Differenzen zu unterstreichen – vergleichbar mit Sabine Herpichs geistesverwandter Doku „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ (2020). Sein Zugang zu psychischer Devianz ist in-, nicht exklusiv, passend zum „Mental Health“-Hype der Gegenwart. Hält man sich das vor Augen, wundert es nicht mehr, warum dieses bemerkenswerte, aber vergleichsweise unscheinbare Kleinod heuer bei der Berlinale den Goldenen Bären gewonnen hat.

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