Literatur

Ist die Ehe ein Placebo?

Nathan Hill, geboren 1978 in Cedar Rapids, USA, errang mit seinem Debütroman „Geister“ (2016) große Aufmerksamkeit.
Nathan Hill, geboren 1978 in Cedar Rapids, USA, errang mit seinem Debütroman „Geister“ (2016) große Aufmerksamkeit. Foto: Erika Kellar
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In seinem großen Roman „Wellness“ schickt Nathan Hill die Ehe auf den Prüfstand und streift dabei die gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1990er-Jahren. Der Humor kommt nicht zu kurz.

Für diejenigen, die in den 1990er-Jahren jung waren, könnte Nathan Hills „Wellness“ zu einer Rosskur werden. Doch auch abseits der Generationen X oder Y ist die Lektüre dieses Romans, der die Aufs und Abs einer Ehe vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels von den 1990ern hinein ins 21. Jahrhundert thematisiert, ein lohnenswertes Unterfangen. Fangen wir ein Stück weiter hinten im Buch an, bei einem Streit.

Wir befinden uns im Jahr 2014. Elizabeth, Placebo-Forscherin und Unternehmerin, und Jack, Künstler und Universitätsdozent, beide Ende 30, befinden sich mit ihrem achtjährigen Sohn Toby auf einer Baustelle im fiktiven Chicagoer Vorort Park Shore. In „The Shipworks“, einer ehemaligen Werft, soll ihre Traumwohnung entstehen – wobei hier die Ansichten auseinandergehen. Elizabeth hat nämlich getrennte Schlafzimmer durchgesetzt. Bezahlt haben sie schon, doch nun protestieren einige gutsituierte Anwohner:innen dagegen, weil sie nicht wollen, dass die Mittelschicht ihre Gegend herunternivelliert – mit Erfolg, der Bau ist vorerst gestoppt, die Stimmung also angespannt. Dann geht es los. „Oh, ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und ein paar Entscheidungen rückgängig machen . . . Manchmal träume ich von einem Neustart in kosmischen Dimensionen“, meint Elizabeth. Die Erzählstimme kommentiert: „Entschiedene Verfestigung der Position.“ Später verfallen beide in ihre üblichen Muster. Er wird überfürsorglich, sie fühlt sich eingeengt.

Sie beobachtet auch ihn

Nathan Hill beginnt seine Geschichte an anderer Stelle, dort, wo es für seine Figuren am schönsten war, im Herzen der 1990er, als die Kinder der Boomer-Generation alles anders machen wollten als ihre Eltern. Jack ist aus den Weiten der Prärie von Kansas nach Chicago gekommen, um Künstler zu werden. Auslöser dafür war seine ältere Schwester, die ihm als Kind einen Druck von Grant Woods berühmtem Gemälde „American Gothic“ geschenkt hatte. Als er dann an der School of the Art Institute of Chicago studiert, treibt man ihm die Begeisterung für derlei populäre Malerei, die nichts als ein Touristenköder sei, schnell aus. Jede Geschichte sei eben schon erzählt, jedes Bild schon gemacht. Dekonstruktion und Postmoderne lassen grüßen. Die Architektur des Romans trägt diesem Umstand Rechnung. Am Anfang noch klassisch erzählt, wird „Wellness“ zunehmend zu einem Spiel mit Fragmenten und Versatzstücken, ein postmoderner Roman.

Jack zieht nach Wicker Park, ein Viertel nördlich des Zentrums, das gerade von Künstlern und kleinen Galerien entdeckt wird, und fotografiert seine neue Welt. Aus seiner heruntergekommenen Wohnung beobachtet er monatelang eine junge Frau, die im Haus gegenüber eingezogen ist. Was er nicht weiß: Sie beobachtet auch ihn. Als sie einander in einem Club über den Weg laufen, fragt er bloß: „Kommst du mit?“ Und sie kommt mit. Was für ein Gründungsmythos für eine Ehe, doch später werden sie die Dramaturgie der Geschichte ändern: „ . . . irgendwann in den letzten Jahren hatten sich ihre Zuhörer mit den Einzelheiten dieser Geschichte unwohl zu fühlen begonnen: Er hatte ihr hinterherspioniert? Ohne ihr Einverständnis? . . . Elizabeth bekannte sich nun als Erste zu ihrem Voyeurismus, woran sich offenbar niemand störte . . .“ Spätestens jetzt ist klar: Nathan Hill kann Satire.

Smartes Armband rät zu Vibrator-Kauf

In den folgenden Jahren zeigt das Internet seine Schattenseiten, Reality-Sendungen fluten das Fernsehen, Wicker Park wird gentrifiziert, Elizabeth setzt ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse für eine Airline ein und profitiert davon finanziell, und an Jacks Kunst-Uni hat plötzlich ein Betriebswirt das Sagen, der all jenen die Rute ins Fenster stellt, die in den Sozialen Medien zu wenig präsent sind. Freilich, wir lesen die Geschichte weißer Heterosexueller. Hill scheint sich dessen bewusst zu sein. Nach einem Lokalbesuch wird Jack von einem Kellner zusammengestaucht, weil er am Tisch erzählt hatte, Wicker Park sei früher verwaist gewesen – dabei war es puerto-ricanisch. Das tut weh!

Nathan Hill erzählt nicht chronologisch. Er springt von den 1990ern in das Jahr 2014 – und holt dann alles Mögliche dazwischen und davor mit Rückblenden ans Licht. Es fühlt sich an wie eine Therapie. Nur dass wir Lesende diese stellvertretend für die Figuren machen, blöd, denn die beiden hätten sie bitter nötig. Längst sind sie in einem stressigen, lustlosen Elternalltag gefangen, in dem Elizabeth den Löwenanteil an der Erziehung übernimmt. Jack optimiert sein Leben mit einem smarten Armband, das ihm zum Kauf eines Vibrators rät, um das Eheleben aufzupeppen, doch zu seinem Pech benutzt Elizabeth diesen ausschließlich allein. Sohn Toby hat ein Aggressionsproblem und interessiert sich für nur eine einzige Sache: das Spiel „Minecraft“, für das er sogar einen Youtube-Kanal betreibt. Dann freundet sich Elizabeth mit der zwanghaft positiv denkenden, bigotten Momfluencerin Brandie an, der späteren Rädelsführerin der Shipworks-Proteste, lernt gleichzeitig aber auch die völlig gegensätzliche Kate kennen. Fasziniert lauscht sie deren Erzählung von einer „Übernachtungsparty“ – nein, keine Kinderparty, sondern ein Erwachsenenspektakel. Wäre das vielleicht etwas für sie und Jack, eine offene Ehe?

Ein Drama in sieben Algorithmen

John Updike ließ bereits 1968 in seinem Roman „Ehepaare“ Vorstadtbewohner:innen in fremde Betten steigen, um der langweilig gewordenen Monogamie zu entkommen, und deutete Beziehungen und Sex als Konsumgut. Auch in „Wellness“ klingt das an. Kate berichtet, sie habe für jede Stimmungslage oder Liebespraktik jemand anderen. „Unser Verlangen nach Neuem ist buchstäblich unersättlich, weshalb der Kapitalismus ein durchschlagender Erfolg ist und die Monogamie eben nicht“, doziert ihr Ehemann Kyle in einem Swingerclub. Ist der Kapitalismus also in unsere Beziehungen, unsere Herzen, ja unsere Schlafzimmer eingedrungen? Sind am Ende die äußeren Umstände hauptschuldig an individuellen Miseren? In einem der interessantesten Kapitel, „Ein Drama in sieben Algorithmen“, erzählt Hill, wie sich jede Änderung des Facebook-Algorithmus auf die Beteiligten auswirkt – und plötzlich Details aus der Vergangenheit von Jack und Elizabeth viral gehen. Immer dann, wenn man in den Strudel dieses Buches gerät, hilft uns Hill mit Ironie heraus. Vielleicht will er uns damit sagen: Entspannt euch doch ein wenig!

Buch

  • Wellness
    Nathan Hill
    Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren und Stephan Kleiner. 736 S., geb., € 29,50 (Piper)

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