Abschiedswerk

Hayao Miyazakis „Der Junge und der Reiher“: Dieser Film hat einen fantastischen Vogel

Die farbenfrohe Fantasy-Welt von Hayao Miyazakis „Der Junge und der Reiher“ hat dunkle Untertöne: Sie spielt vor dem Hintergrund des Pazifikkriegs.
Die farbenfrohe Fantasy-Welt von Hayao Miyazakis „Der Junge und der Reiher“ hat dunkle Untertöne: Sie spielt vor dem Hintergrund des Pazifikkriegs.Polyfilm
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Anime-Altmeister Hayao Miyazaki, 83, will es noch ein letztes Mal wissen: Mit „Der Junge und der Reiher“ wirft er uns kopfüber in die blühenden Untiefen seiner Fantasie. Ein Glück für alle, die Kino schon immer als Wachtraum verstanden.

Es beginnt mit Bombenalarm. Sirenengeheul über der dunklen Stadt. Der junge Mahito fährt aus dem Schlaf. Wo ist Mama? Sie ist im Krankenhaus. Das Krankenhaus brennt. Wurde es getroffen? Mahito stürzt nach draußen. Er will die Mutter retten. Hetzt durch die Straßen. Ringsum Lärm, rastlose Menschen, Chaos, Pandämonium. Alles verschwimmt. Jetzt sieht er es: das Inferno. Schwarzer Rauch, höllischer Glast. Zu spät.

Ist das ein Traum? Nein. Schön wär’s. Das ist die Realität. Und vielleicht nicht unbedingt das, was sich das Publikum vom Einstieg in einen neuen Film von Hayao Miyazaki erwartet. Der berühmte japanische Zeichentrickkünstler, der gefühlt schon immer ein „Altmeister“ war, ist bekannt für seine blühenden und betörenden Fantasy-Welten. Spätestens seit er uns auf „Chihiros Reise ins Zauberland“ (2001) mitnahm (und dafür den Oscar für den besten Animationsfilm erhielt), können auch westliche Fans nicht genug bekommen von Miyazakis außergewöhnlichen, stets von Hand gezeichneten Leinwandabenteuern voller Naturmystik und Animismus.

Entsprechend groß war die Enttäuschung vieler, als der Mitbegründer der stilbildenden Trickfilmschmiede Studio Ghibli vor rund zehn Jahren verkündete, endgültig in den Ruhestand gehen zu wollen. Das 2013 veröffentlichte Animationsdrama „Wie der Wind sich hebt“ sollte sein Abschiedswerk sein. Doch es blieb nicht dabei. Miyazaki hatte noch etwas auf dem Herzen. Und klemmte sich hinter den Zeichentisch, zur Freude seiner Verehrer.

Ein genuines Alterswerk

Das Ergebnis, derzeit in heimischen Kinos zu sehen, trägt den deutschen Verleihtitel „Der Junge und der Reiher“. Es ist ein urtypischer Miyazaki-Film – und doch ganz anders als seine bisherigen Arbeiten, ein genuines Alterswerk, vergleichbar mit Akira Kurosawas Episodenfilm „Träume“: zu gleichen Teilen ein Kompendium der zentralen Motive des Regisseurs, eine vogelwilde Expedition durch verschiedenste Sphären des Fantastischen und ein autofiktionaler Erinnerungstrip. Und, nicht zuletzt, ein Kommentar „zur Lage“, der nicht von ungefähr vor dem dräuenden Hintergrund eines Krieges spielt.

Das tat freilich auch „Wie der Wind sich hebt“, der gleichfalls stark autobiografisch geprägt war. Doch die Grundstimmung, die die eingangs beschriebene Eröffnungssequenz von „Der Junge und der Reiher“ etabliert, ist eine andere. Düster, intensiv, albtraumhaft. Zwar wird deren Höllengemälde schnell von lichteren Ansichten abgelöst. Aber ihr Eindruck hallt nach und färbt unterschwellig den ganzen Film. Nach dem Tod seiner Mutter zieht Mahito mit seinem Vater, der wie einst jener Miyazakis als Erfolgsunternehmer an der Kriegsproduktion beteiligt ist, aufs Land, wo es rund um das luftige Anwesen seiner gut betuchten Familie bildschön grünt: Ein pastorales Paradies, gleichsam von Claude Monet gepinselt, wie in Miyazakis Kinderfilm-Klassiker „Mein Nachbar Totoro“ (1988).

Hier wird das stolze und wohlstandsverwahrloste Bübchen umhätschelt von des Vaters neuer Frau, der jüngeren Schwester seiner Mutter – im damaligen Japan nichts allzu Ungewöhnliches –, und von einem tuschelnden Tross verhutzelter Omileins. Schon bald schlägt die Fantasie zu. Im Kopf züngelt das flammende Trauma des Mutterverlusts. Oder sind Mahitos Visionen mehr als bloß Einbildung? Da steht ein alter steinerner Turm, vor Ewigkeiten von einem Urahnen errichtet. Da krächzt ein imposanter Reiher am Fenster, dessen Stimme verdächtig menschlich klingt.

Dieser führt Mahito mit der Verheißung, die Mutter wiederzusehen, in die Tiefen (und wolkigen Höhen) einer chimärenhaften Welt, in der sich die Lebenden und die Toten gute Nacht sagen. Und in der man sich vor bunten Wellensittichen in Acht nehmen sollte.

Japanische Folklore, Europas Märchen

Der Protagonist, der sein strenges graues Hemd wie einen Panzer trägt, stolpert durch diese faszinierende Märchendimension wie Alice durchs Wunderland. Kaum scheint er halbwegs festen Boden unter den Füßen zu haben, schmilzt dieser weg und befördert ihn flugs auf neues Terrain. Eine konventionelle, unmittelbar nachvollziehbare Handlung entwickelt sich nicht: „Der Junge und der Reiher“ folgt über weite Strecken einer eigentümlichen Traumlogik, zusammengehalten von zum Teil esoterischer Metaphorik, kraftvollem Symbolismus, visueller Prägnanz und dem gewohnt gefühlsgewaltigen Orchester-Soundtrack von Miyazakis Stammkomponisten, Joe Hisaishi. Szenen des Schreckens – ein blutiger Pelikan mit hohlen Augen – wechseln sich ab mit entzückend magischen Momenten. Etwa, wenn süße weiße Wichte – sogenannte Warawaras –, die ein wenig an die Nintendo-Konsolenspielfigur Kirby erinnern, zu Hunderten gen Himmel schweben.

Zugleich bietet der Film, der auf Genzaburō Yoshinos Roman „Wie lebst du?“ (1937) basiert, einen erschöpfenden Abriss der Inspirationsquellen seines Urhebers. Nicht nur der Einfluss japanischer Folklore, auch jener der Mythen-, Kunst- und Kulturgeschichte Europas auf Miyazaki ist überdeutlich. Es gibt Stonehenge-Megalithen, eine kühne Piratin, einen gläsernen Sarg wie bei den Gebrüdern Grimm und eine „Toteninsel“ voller Zypressen wie auf dem Bild von Arnold Böcklin.

All das wirkt, im Verbund mit dem bisweilen surrealen Erzählstil, wie aus der algorithmisch gesteuerten Blockbuster-Zeit gefallen. Dennoch ist „Der Junge und der Reiher“ schon jetzt einer der kommerziell einträglichsten Filme Miyazakis. Das mag nicht unwesentlich mit seinem Status als Anime-Gott und dem jüngeren Boom der Zeichentrick-Gattung aus Japan zusammenhängen. Aber es zeugt auch davon, dass das Kinopublikum es noch nicht verlernt hat, zu träumen.

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