Expedition Europa: Als ich höre, dass Apple ausgerechnet in einem der räudigsten Viertel Neapels seine erste „Developer Academy“ auf europäischem Boden aufgemacht hat, muss ich das Weltwunder von San Giovanni sehen.
Neapel, das war Wut und Scham. Neapolitaner galten als faul und kriminell, ließen 1980 die Veruntreuung der internationalen Erdbebenhilfe durch Camorra und korrupte Politik geschehen, von der Müllabfuhr ganz zu schweigen. Mitunter unterlegt von der Bourbonen-nostalgischen Verschwörungstheorie, die Industrialisierung Norditaliens wäre dem geraubten Goldschatz der Bourbonen zu verdanken gewesen, suhlte sich Neapel in der ewigen Opferhaltung „vittimismo“.
Nun aber das: Neapolitaner Start-ups schießen aus dem Boden, Jahr für Jahr werden 400 IT-Entwickler ausgebildet, die Zahl der Übernachtungen in der früher gefürchteten Tourismusdestination hat sich laut „Neuer Zürcher Zeitung“ in den vergangenen fünf Jahren verfünffacht, die Motorradschießereien junger Camorra-Mafiosi in der Enge der Quartieri Spagnoli sind aus der Mode. In diesem Winter ist der Stolz übermächtig: Nachdem zuvor nur dreimal eine süditalienische Fußballmannschaft die bis dahin 118 italienischen Meisterschaften gewonnen hatte – 1986/87 und 1989/90 der SSC Napoli mit dem jungen, wilden, vom Giuliano-Clan mit Frauen und Kokain belieferten Diego Maradona –, gewann Neapel 2022/23 wieder den „Scudetto“. Diesmal ordentlich geplant und solide finanziert. Als ich dann noch höre, dass der IT-Gigant Apple ausgerechnet in einem der räudigsten Viertel Neapels 2021 seine erste „Developer Academy“ auf europäischem Boden aufgemacht hat, muss ich das Weltwunder von San Giovanni sehen.
Der für Drogenhandel berüchtigte Doppelriegel soll abgerissen werden
Nur zwei S-Bahnstationen vom Hauptbahnhof, vorbei an Industrie-Ruinen wie der Konservenfabrik Cirio, und ich bin da. San Giovanni hielt beinah den Italienrekord von Beziehern des von der Meloni-Regierung eingedampften Bürgergelds „Reddito di Cittadinanza“, als Dank für seine Einführung wählten hier 60 Prozent den M5S. Der erste Eindruck: malerische Armut. Nach links geht es zur neuen Uni, hineingesetzt vom Technokraten Gaetano Manfredi, 2014 bis 2020 Rektor der Universität Neapel Federico II, seit 2021 direkt gewählter Bürgermeister von Neapel. Nach rechts geht es zur „Bronx“. Der für Drogenhandel berüchtigte Doppelriegel soll abgerissen werden, jetzt liegt er noch still da, mit einem neun Stockwerke hohen Murial von Che Guevara und „Dios Umano“ Maradona. Ich gehe durch die sich nach oben verjüngende Schlucht zwischen den zwei Wohnblöcken. Sie ist schmal und düster und 60 Balkone lang, Beklemmung.