Und wie war es schließlich, an dem Ort zu sein, wo ich mich zwölf Jahre lang immer wieder hingewünscht hatte?
Spectrum

New York: Warum ist es so viel schöner, „love“ genannt zu werden als „Schatzi“?

Die Kellnerin nannte mich „love“, als sie bedauerte, dass so vieles auf der Karte bereits aus wäre. Ich bestellte geröstetes Brot mit Tomatenstückchen, bezahlte eine Summe wie zu Hause für ein Menü und war enthusiastisch.

But you are in New York City!“, lautete die Antwort jedes Mal, wenn ich darauf hinwies, dass etwas kaputt war. In NYC zu sein bedeutete, was nicht funktionierte, im Geist umzudeuten, als Chance zu sehen, was anderswo ärgern würde. Abblätternde Emailbeläge von Badewannen, leckende Wasserhähne, lauwarme Backrohre, Waschmaschinen, die wasserlos drehten und nach 38 Minuten Laufzeit ein klebriges Wäschewaschmittelgemisch hervorbrachten, kurzfristig geschlossene Subway Stations, lichtlose Lampen – lauter Chancen, meine bisherigen Gewohnheiten zu durchbrechen. Noch nie zuvor hatte sich der Hinweis auf meinen Aufenthaltsort als derart perfekte Replik auf jede Kritik erwiesen wie während der Monate, die ich in Manhattan verbrachte.

Seit zwölf Jahren, seit meiner ersten Reise dorthin, hatte ich mir gewünscht, einmal eine Weile dort zu leben. Eine Einladung des „Deutschen Haus“ der New York University machte es möglich, ich bekam das Kostbarste zur Verfügung gestellt, das es in Manhattan gibt: eine Wohnung. Sie befand sich im Greenwich Village, südlich der 14. Straße, in der Nähe des Washington Square Park, eine der beliebtesten Gegenden der Stadt und eine der teuersten der USA.

Einst gingen die Autoren der Beat Generation hier spazieren und trinken. In den 1960er-Jahren lebten Künstlerinnen und Künstler in besetzten Häusern von der Hand in den Mund, und Ingeborg Bachmann landete mit dem Schiff an einem der Piers, die mittlerweile Einkaufszentren geworden sind und Food-Courts, und ließ sich zu ihrem Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ inspirieren. In den 1980er-Jahren hielt Max Frisch sich längere Zeit hier auf. Ob er auch einmal in der Wohnung gewesen ist, in der ich jetzt Kaffee koche? Das Mobiliar der Küche dürfte damals schon dasselbe gewesen sein. Ob er mit diesem Lift in das siebte Stockwerk des 30-stöckigen Gebäudes gefahren ist? Der Lift, von dem die Nachbarn sagen, er wäre oft defekt, und allenfalls müsse man in den 29. Stock zu Fuß hinaufsteigen. But hey, you are in New York!

Die Kraftfahrzeuge brauchen Asphalt

„Unsere Prince Street wird geteert. Ich schaue zu, wie ich als Bub solchen Arbeiten zugeschaut habe, das kenne ich: der schwarze Brei, der noch ein wenig raucht, dann die schwere Walze. Aber sie arbeiten hier anders: wie grosse Buben. Wie Pioniere, die Eile ­haben. Wie Dilettanten, die sich zu helfen wissen. Tüchtig mit etwas Pfuscherei, also unzimperlich und zügig. Es gibt so viel Strasse, die geteert werden muss, allein in Manhattan.“ Ich las Max Frischs Tagebuchnotizen von 1982 und hatte den Eindruck, es sei keine Zeit vergangen. Auf der Prince Street wurde geteert. Auf der Spring Street wurde geteert. Auf der Lexington Avenue wurde geteert. ­Vor meinen Fenstern in der Bleecker Street standen Tag und Nacht Kraftfahrzeuge im Stau, sie brauchten Asphalt. ­Die Fassaden der Gebäude rundum waren von Baugerüsten bedeckt. In unerwarteten Momenten verursachte die Renovierung einen ­Höllenlärm. Dann war wieder tagelang Pause. Im Lift, den ich überraschenderweise nie kaputt vorfand, erzählte ein Nachbar aufgebracht, das sei seit einem Jahr so, Höllenlärm, jeden Morgen, dabei müsse er ausschlafen, weil er nachts ­arbeite.

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