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„Wunder der Anden“ als Katastrophenfilm: Survival-Kampf für das Seelenheil

Zum Teil basiert die Ästhetik des Katastrophendramas „Die Schneegesellschaft“ auf Originalfotos, die die Überlebenden des Absturzes von Flug 571 selbst schossen.
Zum Teil basiert die Ästhetik des Katastrophendramas „Die Schneegesellschaft“ auf Originalfotos, die die Überlebenden des Absturzes von Flug 571 selbst schossen. Netflix
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In J. A. Bayonas „Die Schneegesellschaft“ wird das „Wunder der Anden“ zum Stoff für einen erbaulichen, wuchtigen Katastrophenfilm.

Die Welt wartet auf ein Wunder, derzeit – wieder einmal – mehr denn je. Womit die Welt auch wieder offen ist für den Katastrophenfilm, diese wundergläubigste aller Kinogattungen. Denn im Widerspruch zu ihrem Namen geht es in dieser nicht darum, dass alles zusammenbricht, sondern um das, was nach dem Zusammenbruch übrig bleibt. Bei postapokalyptischen Zombieschockern ist das meistens die Hölle auf Erden. Der Katastrophenfilm hingegen wirft seine Figuren auf ihre nackte Menschlichkeit zurück, um auf dieser gemeinsamen Basis eine neue Gemeinschaft zu stiften.

So geschieht es auch in „Die Schneegesellschaft“, einem Musterexemplar des Genres, das derzeit auf Netflix für kalte Schauer und heiße Tränen sorgt – ein Streaming-Hit, passend zur frostigen Winterzeit. Als Vorlage dient jene wahrlich unglaubliche Überlebensgeschichte, die als „Wunder der Anden“ in die Annalen des menschlichen Durchhaltewillens einging und bereits mehrfach verfilmt wurde, zuletzt 1993 mit Ethan Hawke: 1972 stürzte ein Passagierflug, vorwiegend mit jungen Mitgliedern einer Rugby-Mannschaft besetzt, auf dem Luftweg von Uruguay nach Chile auf knapp 4000 Höhenmetern mitten im verschneiten Gebirge ab. Tot geglaubt und ohne ernstliche Aussicht auf Rettung mussten die Überlebenden der Havarie sich vom Fleisch der Toten ernähren, um ihre Körper bei Kräften zu halten – bis es ein paar Gestrandeten gelang, Hilfe zu holen.

Kalvarienweg auf 4000 Höhenmetern

Die Story ist hinlänglich bekannt. Wie immer bei Filmadaptionen wahrer Begebenheiten geht es in erster Linie darum, wie man sie aufbereitet. Und obwohl der Streamingerfolg von „Die Schneegesellschaft“ zum Teil an seiner Verheißung von krasser Survival-Gewalt (Kannibalismus!) liegen könnte, lässt der spanische Regisseur J. A. Bayona sie über weite Strecken diskret im Schneegestöber.

Am brutalsten in seinem Film ist die Inszenierung des Absturzes selbst. Man sieht ihn zwar kommen, aber es trifft einen doch mit unvermittelter Wucht, als Flug 571 plötzlich nach unten und entzweigerissen wird, der Druckabfall einzelne Insassen ins Eis katapultiert, Blech und Knochen bersten lässt. Bayonas Bildsprache geht hier durch Mark und Bein, diese Intensität prägte schon sein Tsunami-Drama „The Impossible“ (2012).

Am klirrend kalten Boden der Tatsachen angekommen, schraubt „Die Schneegesellschaft“ das Tempo rasch zurück und gleitet elliptisch durch die leidvolle Prüfung der Ausgesetzten, die, fast ohne Nahrung, vom Fliegerwrack dürftig vor Wind und Wetter geschützt, den Elementen trotzen müssen.

Ihr Kalvarienweg zur Erlösung gestaltet sich schwierig: Dünn ist die Höhenluft, karg die Hoffnung. Atemberaubend ist aber auch die zum Teil vor Ort in den Anden gefilmte Gebirgskulisse: Ärgerlich, dass man sie hierzulande nicht in den Kinos bestaunen darf.

Der Sonnenglast, der untertags auf die fast ausschließlich jungen, männlichen und gläubigen Überlebenden herniederstrahlt, befördert bei manchen religiöse Ekstase, bei anderen Glaubenskrisen – zumal der Verzehr von Menschenfleisch ihnen sündig erscheint. Der Film erteilt allen Absolution.

Der Trostlosigkeit wird von Bayona nämlich keinerlei Zutritt gewährt: Der Geist des (emotionalen) Zusammenhalts weht in „Die Schneegesellschaft“ durch jedes noch so verzweifelte Bild. Und wird am Ende folgerichtig als Lehre aus dem Durchlebten gezogen – auch im Namen der Toten. Das berührt zum Teil, ist in seiner Gefühlsseligkeit aber auch eine Schwäche: Zuweilen wirkt der Survival-Kampf dadurch fast wie ein spirituelles Retreat. Was Katastrophenfilme im globalisierten Netflix-Zeitalter vielleicht ohnehin sein müssen. Nicht, dass die Abozahlen sinken!

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