Film

„Poor Things“: Wer wie ein Baby denkt, dem liegt die Welt zu Füßen

Ein Schiff wird kommen: Bella Baxter (Emma Stone) reist in „Poor Things“ auf der Suche nach Erfahrung durch eine (hoch artifizielle) Wunderwelt.
Ein Schiff wird kommen: Bella Baxter (Emma Stone) reist in „Poor Things“ auf der Suche nach Erfahrung durch eine (hoch artifizielle) Wunderwelt. Disney
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Ein weibliches Frankenstein-Monster stürzt sich als unbeschriebenes Blatt ins Abenteuer Leben – und weigert sich, an Enttäuschungen zu verzagen. „Poor Things“, Yorgos Lanthimos’ Oscar-würdiges Fantasymärchen, ist der bisherige Höhepunkt einer erstaunlichen Kinokarriere.

Irgendwo in Griechenland: Eine Familie hält ihre erwachsenen Kinder gefangen, abgeschottet von der Außenwelt, seit ihrer Geburt, ohne deren Wissen. Mit abstrusen Märchen halten Mutter und Vater den Sohn und die zwei Töchter davon ab, gegen ihre heimliche Kerkerhaft im abgelegenen Anwesen zu rebellieren: Erst wenn ihre Eckzähne ausfallen, sei die Zeit gekommen, das Haus zu verlassen! Das Leben der Sippschaft wird auch von einem widersinnigen Privatvokabular in seine engen Schranken gewiesen: Das „Meer“, so die Eltern, sei ein Lehnstuhl, das Wort „Autobahn“ stünde für einen „starken Wind“. Dass die bizarre Bevormundung nicht ewig halten kann, ist klar: Irgendwann geht der Freiheitsdrang der ältesten Tochter mit ihr durch. Und ihr Eckzahn fällt endlich aus. Mit Unterstützung. Von einer Hantel.

Dass man diesen schrägen Film gesehen haben muss, sprach sich 2010 beim Crossing-Europe-Filmfestival in Linz schnell herum: Gab es doch wenig Vergleichbares im Programm – und im damaligen Kinojahr. „Kynodontas“, inszeniert vom jungen griechischen Regisseur Yorgos Lanthimos, sorgte nicht nur in Oberösterreich für Aufsehen und Gesprächsstoff. Und war mit seiner eigentümlichen, zum Teil rätselhaften und irritierenden Ästhetik doch ganz klar ein typischer „Festivalfilm“, ungeeignet für breiteres Publikum.

Ob damals schon jemand erahnt hat, dass Lanthimos irgendwann bei den Oscars landen würde? Und zwar nicht „nur“ mit einer Nominierung für den besten fremdsprachigen Film – was „Kynodontas“ aka „Dogtooth“ wider Erwarten tatsächlich gelang –, sondern in der Hauptkategorie? Das wohl nicht. Wirklich absehbar war nur, dass ihm eine steile Kunstkino-Karriere bevorstand: Seine erzählerische Handschrift war so markant, dass sie quasi im Alleingang eine Nouvelle Vague im griechischen Arthouse-Film befeuerte, von Kritikern als „Greek Weird Wave“ tituliert – „weird“ im Sinne von seltsam, merkwürdig.

Schottischer Schelmenroman

14 Jahre später ist Lanthimos ein mehr als beachtliches Stück weiter, spielt künstlerisch und erfolgstechnisch in einer anderen Liga: Sein siebter Langspielfilm, „Poor Things“, hat 2023 beim Filmfest von Venedig den Hauptpreis gewonnen, wurde unlängst bei den Golden Globes ausgezeichnet – und hat gute Chancen, auch bei den kommenden Oscars zu reüssieren. Schon seine letzte Arbeit, das verquere Kostümdrama „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“, war im Rennen um Hollywoods Goldstatuetten ganz vorn mit dabei. Und bescherte der Britin Olivia Colman den Hauptdarstellerinnenpreis. Was an alledem besonders erstaunlich ist: Lanthimos hat sich nicht wirklich „verkauft“, sein jüngeres Schaffen ist kaum weniger seltsam, widerborstig und abgründig als sein Frühwerk. Nur der Humor steht jetzt stärker im Vordergrund: „Poor Things“ gewann bei den Globes in der Sparte „Komödie/Musical“.

Und obwohl darin getanzt wird und es auch etwas zu lachen gibt, greift diese Schubladisierung viel zu kurz. „Poor Things“ entzieht sich, wie fast jeder Lanthimos-Film, gängigen Genrekategorien, wenngleich der heute 50-jährige Regisseur sich selbige zusehends lustvoll zu eigen macht. So trägt seine eigenwillige Adaption eines ebenso eigenwilligen Schelmenromans des 2019 verstorbenen Schotten Alasdair Gray die Züge eines wunderlich-düsteren Fantasy-Märchens, wie es einst von Tim Burton im Kino popularisiert wurde. Und doch ist dessen Hauptfigur, Bella Baxter, eine ganz andere Kreatur als weiland „Edward mit den Scherenhänden“.

Geistesverwandt ist ihr vielmehr die aufmüpfige Tochter aus „Dogtooth“, die das Lügengebäude der Eltern nicht bändigen konnte. Als wir Bella kennenlernen – vor den hoch artifiziell anmutenden Kulissen eines viktorianischen Londons – kugelt sie wie ein kleines Kind durch das großbürgerliche Domizil ihres Obsorgeberechtigten, eines rationalistischen Mediziners mit tiefen Narben im Gesicht. Während dieser von Willem Dafoe mit berührend versehrter Würde verkörpert wird, legt Emma Stone in der Rolle Bellas eine Tour de Force der Grimassen und körperlichen Fehlleistungen hin: Wie sich herausstellt, ist sie geistig wirklich noch auf Baby-Niveau.

Wie „Candide“, nur unverzagt

Was sich sehr bald ändert: Ihre Entwicklung schreitet rasant voran. Die Ursache für dieses Phänomen bildet das unaufdringliche Fantasy-Element des Films – wer will, kann darob Vergleiche zu „Frankenstein“ ziehen. Eine interessantere Parallele wäre Voltaires pikareske Novelle „Candide“: Mit der unaufgeforderten Hilfe eines eingebildeten Schwerenöters (köstlich: Mark Ruffalo) bricht Bella aus der beengenden Obhut ihres Erzeugers aus und stürzt sich ins Abenteuer, das Leben heißt; in rasch wechselnder Abfolge wird sie mit dessen höchsten Höhen und tiefsten Tiefen konfrontiert, von der erotischen Ekstase bis zur niederschmetternden Schwermut, von bitterer Armut bis zum Rausch des Reichtums.

Bloß ist Bella im Unterschied zu Voltaires Candide kein blauäugiges Bübchen, dessen Illusion von der „besten aller möglichen Welten“ Stück für Stück zerdeppert wird, sondern eine wandelnde (und enorm willensstarke) menschliche Tabula rasa, die sich hartnäckig weigert, an Rückschlägen zu verzagen: Jede Enttäuschung birgt ein „Learning“ für sie, um es neudeutsch zu formulieren. Lanthimos’ Homunkulus lässt sich nicht unterkriegen: Vielleicht ein Grund, warum dieser zum Teil ziemlich böse und sexuell erstaunlich freizügige Film von Disney vertrieben wird.

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