Künstler und Nahost

Erst Israel-, jetzt Deutschlandboykott: Die Logik der linken Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux

Linker geht’s kaum: Annie Ernaux in der Schwedischen Akademie 2022.
Linker geht’s kaum: Annie Ernaux in der Schwedischen Akademie 2022. IMAGO/Fredrik Persson/TT
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Die französische Autorin Annie Ernaux unterzeichnete den Aufruf „Strike Germany“.

Um eine Person zu finden, die linker sei als sie, müsse man Jean-Luc Mélenchon und Annie Ernaux kreuzen, sagt die französische Komikerin Sophia Aram in ihrem jüngsten Programm. Nicht nur Kulturaffine in Frankreich verstehen diese Bemerkung sofort. Sie kennen Mélenchon als Leiter der linksradikalen Partei „La France insoumise“; und sie kennen Annie Ernaux als „hauseigene“ Literaturnobelpreisträgerin. Außerdem aber auch als politisch engagierte Autorin, die sich mit ihren Positionen und Engagements ebenfalls in diesem Spektrum bewegt.

Deswegen kommt die Tatsache, dass die 83-Jährige nun den Aufruf zum Boykott deutscher Kulturveranstaltungen, „Strike Germany“, unterschrieben hat, höchstens für manche im Ausland überraschend. Dieser Streik, der Deutschland „treffen“ soll, wird mit einer „McCarthy-Politik“ Deutschlands begründet, „die Meinungsfreiheit, besonders Solidaritätsbekundungen mit Palästina unterdrückt“. Ernaux zählt zu den prominentesten Unterzeichnern dieses Aufrufs.

Etliche Anti-Israel-Aufrufe signiert

Ihre Unterschrift fand sich in den vergangenen Jahren bereits unter mehreren Petitionen, die Kritik an der israelischen Palästinenser-Politik mit Boykottaufrufen verbringen. So unterschrieb sie 2018 einen Offenen Brief, dem zufolge der Staat Israel in Frankreich beschönigend dargestellt werde und es „eine moralische Verpflichtung für jeden Menschen mit Gewissen“ sei, „die Normalisierung der Beziehungen zum Staat Israel abzulehnen“. 2019 rief sie mit über 100 anderen französischen Künstlerinnen und Künstlern zum Boykott des Eurovision Song Contest in Tel Aviv auf, unter anderem durch Nichtübertragung im französischen TV. Ernaux gehörte auch zu den Unterzeichnerinnen des internationalen „Briefs gegen die Apartheid“, in dem Israel mit dem früheren Apartheid-Regime in Südafrika verglichen wird. Manchmal signiert Ernaux nicht nur Petitionen, sondern geht auch zu Protesten auf die Straße, etwa bei dem von Mélenchon initiierten „Marsch gegen das teure Leben“ 2022.

Ein klassisches linkes Narrativ

Durch ihr Engagement weckt sie öffentlich viel Widerspruch – dieser kursierte auch rund um die Nobelpreisverleihung. Ernaux flüchtete einst aus ihrem kleinbürgerlichen Milieu, ihr gesamtes literarisches Werk kreist um soziale Erniedrigung und soziale Scham.

Wie viele Linke im Kulturbetrieb sieht sie die Palästinenser im Nahostkonflikt in einem eindeutigen Opfer-Täter-Schema, als klassisches Opfer eines kolonialistisch-imperialistisch-kapitalistischen Systems.

Ob sich aus einer solchen Sicht auf Israel und der Teil-Übereinstimmung mit Zielen des BDS automatisch ein Antisemitismusvorwurf ableiten lässt, ist wieder eine andere Frage. Sicher ist wohl, dass Ernaux’ politisches Gespür wie bei so vielen Autoren mit der Subtilität, die sie literarisch an den Tag legt, nicht Schritt hält. Das entwertet dann auch pathetische Ansagen wie jene in ihrer Nobelpreisrede 2022: „In gewissen Momenten der Geschichte ist Schweigen fehl am Platz.“

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