Gastkommentar

Russland stellt sich auf den permanenten Krieg ein

Peter Kufner
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Das heutige Russland ist weder eine Hochburg der Zufriedenheit noch das Bollwerk des Wohlstands, wie der Kreml behauptet.

Im späten 18. Jahrhundert plante Katharina die Große eine Reise auf die Krim, die ihr Günstling, Graf Grigori Potemkin, einige Jahre zuvor erobert hatte. Potemkin war es zwar gelungen, die landwirtschaftlich wertvolle Halbinsel dem Osmanischen Reich zu entreißen, doch die versprochene Kolonisierung hatte er nicht zustande gebracht.

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Um sein Gesicht zu wahren, ordnete Potemkin den Bau einer Reihe von bemalten Pappfassaden entlang des Flusses an, an dem die Zarin entlangfahren würde. Um die Illusion zu vervollständigen, ließ er fröhliche Dorfbewohner und Herden mit gesundem Viehbestand kommen. Wohlstand gab es nicht, aber es sah zumindest danach aus.

Seither sind Potemkinsche Dörfer fester Bestandteil der russischen Geschichte. Während der Sowjetzeit wurden systematische Gewalt und Unterdrückung vom Bild eines Kommunismus überdeckt, der das Leben vorgeblich für alle besser macht. Und heute arbeitet der Kreml unermüdlich daran, den Eindruck zu erwecken, Russland sei ein Leuchtfeuer der Stabilität, wo ein dankbares Volk seinem Führer, Wladimir Putin, inbrünstig ergeben ist. Doch hinter den Kulissen findet man Enttäuschung, Verzweiflung, Angst und Wut.

Es wächst die Aggression

Diese Wirklichkeit ist in zeitgenössischen russischen Filmen und im Fernsehen zu sehen, weil es der Populärkultur schwerfällt, hinsichtlich des Zustands der Politik komplette Lügen aufzutischen. Im russischen Krimidrama „Das Wort des Jungen. Blut auf dem Asphalt“ wird eine gewalttätige und chaotische Politik in Bilder der Gewalttätigkeit und des Chaos auf den Straßen umgesetzt. Wenn Anführer beharrlich behaupten, dass überall Feinde lauerten und dass die beste Verteidigung darin bestehe, als Erster zuzuschlagen, wachsen Paranoia, Intoleranz und Aggression. Es überrascht nicht, dass russische Kinder ihre Klassenkameraden tyrannisieren, Teenager sich dabei filmen, wie sie Passanten attackieren, und Erwachsene in Schlägereien in der Öffentlichkeit verwickelt sind, während Putin Krieg gegen die Ukraine führt.

Das heutige Russland ist weder eine Hochburg der Stabilität und Zufriedenheit noch das Bollwerk des Wohlstands, wie der Kreml behauptet. Obwohl das russische BIP trotz westlicher Sanktionen im Jahr 2023 um mehr als drei Prozent angestiegen ist, ist dies wohl kaum Ausdruck einer echten oder nachhaltigen wirtschaftlichen Dynamik. Vielmehr spiegelt sich darin die Tatsache wider, dass der Staat massive Mittel in den militärisch-industriellen Komplex gepumpt hat. Diese Ressourcen mussten jedoch von irgendwoher umgeleitet werden, und eine Reihe von Unglücken – darunter Infrastrukturausfälle, Zusammenbrüche der Energieversorgung sowie Brände in Fabriken und Lagerhäusern – lässt vermuten, woher diese Ressourcen stammen.

Darüber hinaus führte der Krieg gegen die Ukraine zu einem Massenexodus aus Russland; viele Russinnen und Russen – darunter hoch qualifizierte Menschen – haben das Land verlassen; 85 Prozent der Unternehmen sprechen von einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Manche Schätzungen gehen davon aus, dass in Russland um 2030 bis zu vier Millionen Fachkräfte fehlen werden, wodurch das BIP-Wachstum um etwa zwei Prozentpunkte sinken würde.

Wie in jeder Diktatur wird auch unter Putins Regime die Propaganda umso lauter, je mehr Probleme auftreten. Das erklärt, warum im November 2023 – am Tag der Einheit des Volkes – in Moskau eine Großveranstaltung mit „Forum und Ausstellung“ unter dem schlichten Titel „Russland“ eröffnet wurde. Die sechsmonatige Schau, die nach den Präsidentschaftswahlen im März enden soll, ist als „groß angelegte Präsentation des Landes“ konzipiert. In 131 Ausstellungen werden die „wichtigsten Errungenschaften“ Russlands vorgestellt. Die Veranstaltung wird natürlich auch genutzt, um den Personenkult um Putin zu intensivieren. In dieser Hinsicht könnte die Wahl des Veranstaltungsortes nicht treffender sein: Es handelt sich um die Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft (WDNCh), die auf dem Höhepunkt der Säuberungen unter Stalin errichtet wurde.  

Putins Konterfei und Avatar beherrschen das Geschehen. Zu sehen ist, wie sie auf riesigen Bildschirmen in den Pavillons des Veranstaltungsortes mit Arbeitern sprechen, Ärzte treffen und mit Geistlichen beten. Im Souvenirladen der Ausstellung werden Artikel verkauft, die mit Zitaten des Präsidenten versehen sind. „Die russische Flagge darf niemanden stören“, heißt es auf einem T-Shirt. „Es ist gleichermaßen ehrenwert, unser Freund und unser Feind zu sein“, steht auf einem Sweatshirt. Für Russinnen und Russen, die es nicht in den WDNCh-Souvenirladen schaffen, wurden in den ersten beiden Wochen des Jahres ähnliche Zitate auf riesigen Freiluftbildschirmen im ganzen Land gezeigt. „Die goldene Reserve der Nation sind ihre Menschen“, hieß es da etwa. Oder: „Wir können alles erreichen, wenn unser Weg von der Liebe zum Vaterland erleuchtet ist.“

Diese Sprache lernt man im Einführungskurs zur Sowjetdiktatur. Unvergessen sind die Plakate, auf denen Stalin in einer tarnfarbenen Militärjacke zu sehen ist, wie er glücklichen Kindern ein Eis reicht oder über wohl bestellte Felder und Scharen von Bauern wacht. Während Stalins Herrschaft waren seine Bilder allgegenwärtig. Sie prangten an Hauswänden, wurden als Transparente bei Paraden getragen und sogar in Teppiche eingewebt. Auch andere, von Lenin bis Breschnew, ließen Plakate anfertigen, auf denen sie ihre hochtrabenden wie fadenscheinigen Botschaften verkündeten.

Das Ziel der aktuellen Kreml-Propaganda besteht nicht darin, die Menschen davon zu überzeugen, dass das Leben in Russland sicher und von Wohlstand geprägt sei. Das war vielleicht am Anfang so, aber mit zunehmender Dauer des Krieges musste sich Putin anpassen. In Anlehnung an Stalins Narrativ, wonach der Fortschritt in Richtung Sozialismus weitere Herausforderungen mit sich bringt, die eine Verschärfung des Klassenkampfes erfordern, setzt Putin nun seine Propaganda ein, um die russische Bevölkerung auf noch mehr Krieg vorzubereiten.

Potemkin wäre stolz

Diese Anstrengungen finden keineswegs im Verborgenen statt. So wurde am 14. Jänner auf dem WDNCh-Ausstellungsgelände ein Pavillon des Verteidigungsministeriums unter dem Titel „Armee für Kinder. Stadt der Berufe. Zukunft des Landes“ eröffnet. Eine andere Ausstellung – nämlich „Der Prozess. Franz Kafka und die Kunst des 20. Jahrhunderts“, die im jüdischen Museum (oder Zentrum für Toleranz) stattgefunden hatte – wurde geschlossen.

Genau die in der Kafka-Ausstellung vermittelten Botschaften benötigt Russland heute: Das sowjetische System war absurd, aber imstande, mit gnadenloser Effizienz unschuldige Menschen zu vernichten. Stattdessen werden die Botschaften, die die Russinnen und Russen heute erreichen, von Tag zu Tag militaristischer und weniger tolerant – eine Fassade, hinter der sich Scheinwahlen, eine schwächelnde Wirtschaft und zunehmende Gewalt verbergen. Potemkin wäre stolz.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier,
Copyright: Project Syndicate, 2024.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Die Autorin

Clemens Fabry

Nina L. Chruschtschowa (geboren 1964) studierte an der Moskauer Staatsuniversität und in Princeton. Sie ist Urenkelin des früheren Sowjetführers Nikita Chruschtschow. Derzeit ist sie Professorin an der New School.

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