Junge Forschung

Freundschaft in Krisenzeiten

„Mich interessiert, wie sich Menschen an Transformationszeiten mit ihrem Nebeneinander von Ungleichheit und Aufstieg erinnern“, sagt Till Hilmar.
„Mich interessiert, wie sich Menschen an Transformationszeiten mit ihrem Nebeneinander von Ungleichheit und Aufstieg erinnern“, sagt Till Hilmar.Caio Kauffmann
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Der Soziologe und Politikwissenschaftler Till Hilmar hat Menschen aus Tschechien und Ostdeutschland zu ihren Erinnerungen an die Jahre nach den Umbrüchen 1989 befragt.

Es war ein Nebeneinander von Aufstieg und Fall. Die Krisenerfahrungen der Bevölkerung der ehemaligen Ostblockstaaten in den 1990er-Jahren ähneln denen, die heute weltweit zu beobachten sind. „Die Ungleichheit stieg an, gleichzeitig gab es mehr Möglichkeiten und damit Chancen“, sagt der Soziologe Till Hilmar. „Das hat die Gesellschaften sehr geprägt.“ Er hat im Zuge seines Doktorats an der Yale University erforscht, wie Menschen aus Ostdeutschland und Tschechien ihren eigenen Weg damals nacherzählen.

Die Ergebnisse seiner Arbeit erschienen 2023 in Buchform („Deserved. Economic Memories after the Fall of the Iron Curtain“, Columbia University Press). Im Fokus standen die persönlichen Erfahrungen während des radikalen Wandels von einem staatssozialistischen zu einem marktwirtschaftlichen System. Dazu führte Hilmar eine Interviewstudie durch, an der knapp siebzig Personen aus Berufen mit unterschiedlichen Arbeitsmarktchancen (Pflegekräfte, Ingenieurinnen und Ingenieure) teilnahmen.

Wer ist schuld?

Für die meisten spielte das Thema Arbeit eine große Rolle: „Der ökomische Wandel wird ganz stark und mit vielen Emotionen erinnert“, fasst Hilmar zusammen. Auswirkungen hatte die bewegte Zeit, die häufig mit Brüchen, Arbeitslosigkeit und Umschulungen verbunden war, auch auf Freundschaften. „In der Lebensrealität sind die Bereiche Wirtschaft und Privates eng verknüpft, weil soziale Anerkennung durch Arbeit, Status, sozialen Aufstieg und durch das Gefühl, dass man etwas zur Gesellschaft beiträgt, dass man das Leben in der Mittelklasse verdient hat, hergestellt wird.“

Welche Konsequenzen es bis heute hat, wenn gesellschaftliche Umwälzungen es in einer Lebensphase schwierig machen, sich sozial anerkannt zu fühlen, zeigt seine Studie eindrücklich. Viele der Befragten erzählten von zerbrochenen Freundschaften und ausgebliebener Solidarität, von Freundinnen und Freunden, die sie in der Krise nicht genug unterstützt hätten. Darüber stehe eine konfliktträchtige Frage: Wer ist schuld? Man selbst, weil man es nicht geschafft hat und für das Scheitern angesichts der vermeintlich gleichen Ausgangsposition und gleichen Möglichkeiten Verantwortung trägt? Der Einschnitt 1989, der einen ähnlichen Bezugspunkt für alle – die zudem ja aus relativ egalitären Gesellschaften kamen – markiert, lädt zu Vergleichen ein.

»Die meisten haben die Haltung, dass man sich ein Mittelklasse-Leben erarbeiten und verdienen muss.«

Till Hilmar

Besonders die befragten Ingenieure und Ingenieurinnen, die in den 1990ern gute Chancen hatten und eher auf der Gewinnerseite standen, tendierten dazu, individuelle Deutungen für Freunde und Freundinnen, die es nicht geschafft hatten, zu suchen. Diese hätten keine Verantwortung für ihr Schicksal übernommen, seien zu faul, zu immobil gewesen. In der Soziologie wisse man um die Bedeutung struktureller Phänomene bei Erwerbslosigkeit. „Das betrifft gewisse Arbeitsmärkte, Regionen oder Firmen“, erklärt Hilmar. „Die meisten in der Studie hingegen waren der Meinung, dass die Gründe, warum manche nicht aus der Arbeitslosigkeit herauskommen, doch letztlich mit individuellen Eigenschaften zu tun haben müssen.“

Zwischen den Dörfern spazieren

Nach einer Zwischenstation in Bremen ist Hilmar mittlerweile wieder zurück an seiner Heimatuni Wien. Hier beschäftigt sich der 38-Jährige aktuell mit der Wahrnehmung von Ungleichheit in unterschiedlichen Schichten im Kontext der Klimakrise und damit in Verbindung stehenden Emotionen wie Angst oder Scham. An die Jahre an der Eliteuni Yale erinnert er sich gern zurück: „Es gibt dort viele Räume, die es jungen Forschenden ermöglichen, sich mit anderen auszutauschen – ohne in permanenter Konkurrenz zueinander zu stehen.“

Seine Arbeit lasse ihn auch in der Freizeit nie ganz los. „Irgendwie befindet man sich ständig in der Reflexion auf soziale Situationen, aber wenn man die Diss überlebt hat, muss man sich schon Gedanken über die Work-Life-Balance machen“, schmunzelt er. Ausgleich findet er beim Wandern. Ausschließlich in der Natur bleibt er dabei selten, zieht es ihn doch immer in unbekannte Dörfer oder Stadtteile, also wieder zu den Menschen, zurück.

Zur Person

Till Hilmar (38) ist in Wien aufgewachsen und hat an der Uni Wien Politikwissenschaft studiert. 2013 ging er an die Yale University (USA), wo er 2019 in Soziologie promovierte. Es folgte eine Postdoc-Stelle in Bremen. Seit Ende 2022 ist Hilmar wieder an der Uni Wien. 2023 erschien seine Doktorarbeit als Buch („Deserved“, Columbia University Press).

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