Gastkommentar

Südafrika gegen Israel: eine erste salomonische Entscheidung

Der IGH hat es in seiner weisen Entscheidung vom 26. Januar verstanden, aus einer Not eine Tugend zu machen: Israel wurde nicht untersagt, seine Kampfhandlungen fortzuführen, doch an die strikte Einhaltung des humanitären Völkerrechts und die Verpflichtung erinnert, Völkermord zu vermeiden.

Die Klage Südafrikas gegen Israel auf der Grundlage der Völkermordkonvention 1948 schien die Gefahr heraufzubeschwören, einen Schauprozess zu generieren, in dem es (fast) nur Verlierer geben konnte und insbesondere hinsichtlich der beantragten vorläufigen Maßnahmen nur schlechte Alternativen. Würde der IGH diese Maßnahmen ablehnen, so würde er sich dem Zorn nicht nur der Dritten Welt, sondern einer großen Zahl an Staaten weltweit aussetzen, die sich auf die Seite Palästinas bzw. gegen Israel gestellt haben. Die immer wieder zu hörenden Klagen über die Ineffektivität dieses Gerichts hätten neue Nahrung erlangt.

Die israelische Regierung hätte auf der anderen Seite eine solche Entscheidung auch als Generalabsolution auch hinsichtlich aller möglichen Beanstandungen über Verletzungen des Kriegsrechts und des humanitären Völkerrechts verkaufen können, die als solche gar nicht unmittelbar verfahrensgegenständlich sind, wenngleich dies die Weltöffentlichkeit vielfach nicht wahrzunehmen scheint. Es geht in diesem Verfahren strikt um die Frage, ob Völkermord vorliegt bzw. plausibel droht – nur dafür bietet die Völkermordkonvention eine Kompetenzgrundlage des IGH. Eine Genehmigung der beantragten Maßnahmen hätte hingegen die Kampfhandlungen Israels im Gaza-Streifen völlig delegitimiert und das Selbstverteidigungsrecht Israels in Frage gestellt. Damit wäre Israel nicht nur weiter in die Ecke eines Pariastaates gerückt mit ernsthaften Konsequenzen für seine dauerhafte Überlebensfähigkeit.

Berechtigte Warnungen von Hugh Thirlway

Eine solche Entscheidung hätte auch zumindest de facto eine gewisse Präjudizienwirkung in Bezug auf die erst in ein paar Jahren zu erwartende Entscheidung in der Sache gezeitigt und argumentativ die Verteidigung Israels erschwert. Der außenpolitische Erfolg der südafrikanischen Regierung wäre von enormer Dimension gewesen – das vielfach kolportierte Ansinnen, damit auch innenpolitisch einen Punktgewinn zu erzielen, zur plausiblen Option geworden. Dieses Verfahren verdeutlichte damit geradezu exemplarisch wie berechtigt die Warnungen von Professor Hugh Thirlway, einem der prominentesten Kenner des IGH-Verfahrens waren, die er vor einigen Jahren im renommierten Lehrbuch von Evans, International Law, 2018, zum Ausdruck gebracht hat:

„The provisional measures procedure has always offered a temptation to States to commence proceedings on a shaky jurisdictional foundation in the hope of getting at least the short-term benefit of an order of provisional measures, and this is all the more attractive when the order is recognized to be immediately binding, even if unenforceable.”

Der IGH hat es hingegen in seiner weisen Entscheidung vom 26. Januar – in dieser Form wohl weitgehend unerwartet – verstanden, aus einer Not eine Tugend zu machen: Israel wurde nicht untersagt, seine Kampfhandlungen fortzuführen, doch wurde gleichzeitig die strikte Einhaltung des humanitären Völkerrechts sowie der Verpflichtung angemahnt, Völkermord zu vermeiden und die Anstachelung dazu zu bekämpfen und zu bestrafen. Es müssen zudem wirksame Maßnahmen zur Verhinderung der Zerstörung von Beweismitteln getroffen werden.

Besondere Aufmerksamkeit widmet der IGH der humanitären Lage in Gaza und in diesem Zusammenhang wird Israel aufgefordert, humanitäre Hilfslieferungen zuzulassen und insbesondere auch in Bezug auf gefährdete Schwangerschaften und Geburten zu reagieren.

Israel muss nun innerhalb eines Monats über Umsetzungsmaßnahmen zu diesen Verpflichtungen berichten, wozu Südafrika wiederum Stellung beziehen kann.

Der IGH verabsäumte es auch nicht, seine „tiefe Sorge“ über die Lage der Geiseln zum Ausdruck zu bringen – und zeigte damit Konsequenz, die die politischen Organe der Vereinten Nationen viel zu lange vermissen ließen.

Nicht auf schädlichen Streit eingelassen

Insgesamt hat der IGH hier der Versuchung widerstanden, sich in einen fruchtlosen und für die Beteiligten vor Ort nur schädlichen Streit über bereits Geschehenes einzulassen (auch aufgrund einer Rechtsgrundlage, der Völkermordkonvention, die dafür nicht tauglich ist), sondern die Gelegenheit ergriffen, prospektiv das Los der Betroffenen in den Mittelpunkt zu rücken und unter Berücksichtigung seiner begrenzten Einflussmöglichkeiten, den bestmöglichen Beitrag zur Linderung der Not der Zivilbevölkerung – auch unter Einbeziehung der aus Israel entführten Geiseln – zu leisten.

Damit hat der IGH auch einen weiteren wichtigen Beitrag zur „Humanisierung des Völkerrechts“ geleistet und den Fokus – trotz der Tatsache, dass es sich beim IGH nach wie vor essentiell um ein Staatengericht handelt – auf den Menschen gerichtet (vgl. zu diesen Tendenzen P. Hilpold, Humanizing’ the Law of Self-Determination –the Chagos Island Case”, in: 91 Nordic Journal of International Law 2/2022, S. 189-215).

Dr. Peter Hilpold (* 1965) studierte Rechtswissenschaften, VWL und BWL. Seit 2001 ist er Professor für Völker-, Europa- und Vergleichendes Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck und lehrte auch an anderen Universitäten. Er ist Autor von über 300 wissenschaftlichen Publikationen.

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