Gastkommentar

Was Amerikas Niedergang wirklich einleiten könnte

Peter Kufner
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Die US-Bürger haben vom Aufstieg des populistischen Nationalismus zu Hause mehr zu befürchten als vom Aufstieg Chinas.

Die meisten US-Bürger glauben, dass sich die USA im Niedergang befinden. Donald Trump behauptet daher, er könne die USA zu alter Größe zurückführen („Make America Great Again“). Doch ist Trumps Prämisse schlicht falsch – und die größte Bedrohung für die USA geht von den von ihm vorgeschlagenen Abhilfemaßnahmen aus.

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US-Bürger haben sich in ihrer Geschichte immer wieder Sorgen über einen Niedergang gemacht. Schon kurz nach Gründung der Kolonie an der Massachusetts Bay im 17. Jahrhundert beklagten einige Puritaner den Verlust früherer Tugendhaftigkeit. Im 18. Jahrhundert studierten die Gründerväter im Rahmen ihrer Überlegungen, wie sich die neue amerikanische Republik bewahren ließe, die römische Geschichte.

Im 19. Jahrhundert äußerte Charles Dickens, dass, wenn man den Amerikanern Glauben schenke, ihr Land „immer in der Depression steckt, immer stagniert und sich immer in einer Besorgnis erregenden Krise befindet, und dass es nie anders war“. Auf dem Deckblatt einer Zeitschrift aus dem Jahr 1979, in der es um den nationalen Niedergang geht, laufen der Freiheitsstatue Tränen über die Wangen.

Psychologische Befindlichkeit

Doch während sich die US-Bürger seit Langem zum „goldenen Glanz der Vergangenheit“ hingezogen fühlen, waren die USA nie so mächtig, wie viele meinen. Selbst mit überlegenen Ressourcen haben sie es oft nicht geschafft zu erreichen, was sie wollten. Wer glaubt, dass die heutige Welt komplexer und turbulenter sei als die Vergangenheit, sollte sich an ein Jahr wie 1956 erinnern, als die USA nicht imstande waren, die sowjetische Unterdrückung eines Aufstands in Ungarn zu verhindern.

Phasen der Fixierung auf den eigenen Niedergang sagen mehr über die psychologischen Befindlichkeiten der Menschen aus als über die geopolitische Lage. Trotzdem trifft die Idee des Niedergangs in der US-Politik eindeutig einen empfindlichen Nerv, was sie zum gedeihlichen Nährboden für parteipolitische Konflikte macht.

Manchmal führt die Angst vor dem Niedergang zu protektionistischen Maßnahmen, die mehr schaden als nutzen. Und manchmal führen Phasen der Hybris zu selbstüberhebenden Maßnahmen wie dem Irak-Krieg. Es bringt nichts, die Macht Amerikas zu unter- oder auch zu überschätzen.

Was die Geopolitik angeht, so ist es wichtig, zwischen absolutem und relativem Niedergang zu unterscheiden. In einem relativen Sinne befinden sich die USA seit Ende des Zweiten Weltkriegs im Niedergang. Nie wieder wird die Hälfte der Weltwirtschaft auf sie entfallen, während sie zugleich ein Atomwaffen-Monopol innehatten (die Sowjetunion entwickelte 1949 Atomwaffen). Der Weltkrieg hatte die amerikanische Volkswirtschaft gestärkt und die aller anderen geschwächt. Doch mit der wirtschaftlichen Erholung der übrigen Welt sank der Anteil der USA am globalen BIP bis 1970 auf ein Drittel (was in etwa ihrem Anteil am Vorabend des Zweiten Weltkriegs entsprach).

Präsident Richard Nixon betrachtete dies als Zeichen des Niedergangs und gab die Bindung des Dollars an den Goldpreis auf. Doch auch ein halbes Jahrhundert später bleibt der Greenback die wichtigste Währung, der Anteil der USA am globalen BIP liegt noch immer bei rund einem Viertel, und auch ihren Sieg im Kalten Krieg hat der vermeintliche „Niedergang“ der USA nicht verhindert.

Heute wird als Beleg für den amerikanischen Niedergang häufig der Aufstieg Chinas angeführt. Verengt auf die Machtverhältnisse zwischen diesen beiden Ländern, gab es tatsächlich eine Verschiebung zugunsten Chinas, die sich als relativer Niedergang der USA darstellen lässt. Doch absolut gesehen sind die Vereinigten Staaten noch immer mächtiger als China und dürften es bleiben.

Sechs langfristige Vorteile

China ist ein beeindruckender Wettbewerber, aber mit erheblichen Schwächen. Was das Machtgleichgewicht insgesamt angeht, haben die USA mindestens sechs langfristige Vorteile. Der erste ist die geografische Lage. Die USA sind von zwei Ozeanen und zwei befreundeten Nachbarn umgeben, während China Grenzen zu 14 Ländern hat, wobei mit mehreren davon territoriale Streitigkeiten bestehen, darunter mit Indien.

Ein zweiter Vorteil ist die relative Unabhängigkeit der USA bei der Energieversorgung, während China von Importen abhängig ist. Drittens ziehen die USA Macht aus ihren großen transnationalen Finanzinstituten und der internationalen Rolle des Dollars. Eine glaubwürdige Reservewährung muss frei konvertierbar sein und in Kapitalmärkten und im Rechtsstaat wurzeln – was auf China nicht zutrifft. Viertens haben die USA einen relativen demografischen Vorteil: Sie sind das einzige wichtige Industrieland, das derzeit seinen Platz (Rang drei) im globalen Bevölkerungsranking hält. In sieben der 15 weltgrößten Volkswirtschaften wird die Erwerbsbevölkerung im Laufe des nächsten Jahrzehnts schrumpfen, während sie in den USA wachsen dürfte. Chinas Erwerbsbevölkerung hat 2014 ihren Zenit überschritten.

Ist 2024 der Wendepunkt?

Fünftens sind die USA bei Schlüsseltechnologien (Bio-, Nano- und Informationstechnologie) seit Langem vorn dabei. China investiert stark in Forschung und Entwicklung; es erreicht inzwischen hohe Werte bei Patentanmeldungen. Doch laut eigenen Kennzahlen sind seine Forschungseinrichtungen noch immer nicht so gut wie die der USA. Und zu guter Letzt zeigen internationale Umfragen, dass die USA China im Bereich der Soft Power überlegen sind.

Alles in allem halten die USA im Konkurrenzkampf der Großmächte des 21. Jahrhunderts gute Karten. Doch wenn sich die US-Bürger der Hysterie über Chinas Aufstieg oder der Selbstzufriedenheit über Chinas „überschrittenen Zenit“ hingeben, werden sie diese Karten womöglich schlecht ausspielen. Gute Karten – darunter starke Bündnisse und Einfluss in den internationalen Institutionen – abzuwerfen, wäre ein schwerer Fehler. Statt den USA zu alter Größe zu verhelfen, könnte es sie enorm schwächen.

Die US-Bürger haben vom Aufstieg des populistischen Nationalismus zu Hause mehr zu befürchten als vom Aufstieg Chinas. Populistische Maßnahmen wie die Weigerung, die Ukraine zu unterstützen, oder der Austritt aus der Nato würden der Soft Power der USA schweren Schaden zufügen. Falls Trump im November die Präsidentschaftswahl gewinnt, könnte 2024 einen Wendepunkt für die US-Macht darstellen. Das Gefühl des Niedergangs könnte dann erstmals gerechtfertigt sein.

Fragilität der US-Demokratie

Selbst wenn seine äußere Macht dominant bleibt, kann ein Land seine innere Tugend und seine Attraktivität für andere einbüßen. Benjamin Franklin hat die von den Gründervätern geschaffene Regierungs­form der USA einmal wie folgt beschrieben: „eine Republik, wenn ihr sie bewahren könnt“. Die Entwicklung, die tatsächlich einen Niedergang Amerikas verursachen könnte, ist die zunehmende Polarisierung und Fragilität der amerikanischen Demokratie.

Aus dem Englischen von Jan Doolan,
Copyright: Project Syndicate, 2024.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Joseph S. Nye Jr. ist Professor emeritus an der Kennedy School der Universität Harvard und ehemaliger Abteilungsleiter im US-Verteidigungsministerium. Vor Kurzem erschien seine Autobiografie „A Life in the American Century“ (Polity Press).

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