Gastkommentar

Ein Plebiszit für den Krieg: Russland vor den Präsidentschaftswahlen

Peter Kufner
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Harte Autokratie. Der Ausgang der Wahlen in Russland ist klar. Doch für das Regime geht es wegen der Ukraine um mehr als einen einfachen Sieg.

Das Jahr 2024 wird als das Jahr der Wahlen in die Geschichte eingehen: Nach einer Zählung der Zeitschrift „Economist“ wird 2024 mit etwa 4,2 Milliarden Wählerinnen und Wählern die Hälfte der Menschheit zur Stimmabgabe aufgerufen – mehr als je zuvor in der Geschichte. So auch in Russland, wo sich Wladimir Putin bei der russischen Bevölkerung im März (15.–17. 3.) das Mandat für eine weitere sechsjährige Amtszeit abholen will. Erschlichen hat er sich diese Möglichkeit, als er 2020 im Rahmen der Verfassungsreform in einem für ihn so typischen Last-Minute-Coup die Beschränkung seiner Amtszeit aufheben ließ.

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Um unliebsame Überraschungen bei der Wahl auszuschließen, hat der Kreml eine ganze Reihe technischer Vorkehrungen getroffen. So wurde die Wahl wie bei den Duma-Wahlen 2021 auf drei Tage ausgedehnt, was Manipulationen erleichtert. Eine unabhängige Wahlbeobachtung ist derweil kaum mehr möglich: Die russische Bewegung Golos ist seit 2021 als „ausländischer Agent“ registriert, ihr Vorsitzender, Grigorij Melkonjanz, wurde im September 2023 verhaftet. Und auch ausländische Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) wurden nicht mehr eingeladen. Einladungen ergingen lediglich an solche Organisationen, Parlamente und Individuen, die sich laut dem stellvertretenden Vorsitzenden des Föderationsrats, Konstantin Kosatschew, „eine objektive, unparteiische Position bewahrt haben und nicht unter Kontrolle des Westens stehen“. Gemeint sind Verbündete wie Belarus oder Parteigänger aus dem rechtspopulistischen Spektrum in Europa.

Kaum politische Gegenwehr

Einige handverlesene Gegenkandidaten hat diese „Wahl“ natürlich ebenfalls zu bieten, wenn sie auch nur als Dekoration dienen. Da ist zum Bespiel Leonid Sluzkij, der als Nachfolger des legendären Wladimir Schirinowskij den Vorsitz der rechtspopulistischen Partei LDPR innehat. Putin Stimmen „wegnehmen“ mag Sluzkij allerdings nicht, sondern hält fest: „Ich werde nicht dazu aufrufen, gegen Putin zu stimmen!“ Und auch die Kommunisten der KPRF sind wieder dabei. Diesmal, wie schon 2004, mit Nikolaj Charitonow, der mit seinen 75 Jahren offenbar als Beweis dafür herhalten soll, dass Alter keine Rolle spielt. Wohl auch, weil Putin trotz multipler Botox-Injektionen kaum verbergen kann, dass er die 70 überschritten hat. Aus dem obligaten Wirtschaftslager darf sich ein weiterer Kandidat versuchen: der weithin unbekannte stellvertretende Vorsitzende der Staatsduma, Wladislaw Dawankow, von der Partei Neue Leute.

Um das Risiko von Massenprotesten bei allzu offensichtlichen Fälschungen zu minimieren, hat der russische Staat einen eindrucksvoll abschreckenden Repressionsapparat in Stellung gebracht. Dieser erstickt bereits seit 2022 jede Unmutsäußerung im Keim oder treibt Abweichler ins Exil. Gleichwohl bleiben ein Restrisiko und eine deutlich erhöhte Nervosität. Denn trotz aller Vorkehrungen, die den Ausgang der Wahl garantieren sollen, muss schlussendlich noch immer das „richtige“ Ergebnis herauskommen. Und hier liegt die Messlatte ziemlich hoch, denn je schwächer die Demokratie in Russland seit 2012 wurde, umso stärker wurden Putins Wahlergebnisse. Ein Trend, der keinesfalls gebrochen werden darf. Bei der Wahl 2012 erzielte Putin 64,4 Prozent der Stimmen (bei einer Wahlbeteiligung von 65,3 Prozent), bei der Wahl 2018 waren es bereits 76,7 Prozent (Wahlbeteiligung: 67,5 Prozent). Der Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (BTI) verzeichnete im gleichen Zeitraum einen Rückgang beim Demokratie-Index von 5,35 auf 4,55. Damit entwickelte sich Russland von einer „stark defekten Demokratie“ zu einer „moderaten Autokratie“.

„Neue Normalität“ des Kriegs

Dieser Niedergang setzte sich in den vergangenen Jahren fort: 2022 verzeichnete der BTI Demokratieindex nur noch einen Wert von 4,40 und im neuesten BTI 2024 (Veröffentlichung im März 2024), der nun auch den Krieg gegen die Ukraine und die damit einhergehende Repressionswelle erfasst, wird Russland mit 3,43 als „harte Autokratie“ geführt. Kein Wunder, dass der Kreml für die Wahlen als Plangröße ein Ergebnis von mehr als 80 Prozent ausgegeben hat.

Die Wahlkampagne ist also nicht als Wahlkampf zu verstehen, sondern als eine Art Mobilisierungskampagne, in der sich die Bevölkerung um die Figur des Führers schart, dem Garanten der „Einheit“ des Volks und der „Souveränität“ des Landes. Diese sind im Zeichen des fortdauernden Kriegs gegen die Ukraine die beiden politischen Schlüsselbegriffe: Ohne Einheit und Souveränität hat Russland keine Überlebenschance, so das offizielle Narrativ. Und bedroht werden diese Pfeiler des Staats angeblich in erster Linie von außen, durch den kollektiven Westen, der mithilfe der Ukraine Russlands Existenz auslöschen wolle.

Obwohl der Krieg die Drehachse der russischen Politik ist, darf er angesichts einer in der Bevölkerung verbreiteten eher ambivalenten Stimmung nicht im Mittelpunkt der Wahlkampagne stehen. Der Zielkonflikt dieser Wahl bleibt folglich bestehen: Einerseits soll sie als starkes Plebiszit für den Kriegskurs fungieren, andererseits soll sie den Krieg jedoch soweit wie möglich ignorieren. Immerhin wirft jede Thematisierung des Konflikts unweigerlich die Frage auf, wann und wie er beendet werden kann – und im Zweifel auch, warum er überhaupt begonnen wurde.

Es fehlt die patriotische Welle

Angesichts des desolaten Kriegsverlaufs in der Ukraine fehlt Putin zudem eine patriotische Welle wie jene, auf der sein Geistesverwandter in Baku, Ilham Alijew, derzeit reitet (weshalb er seine Wahl kurzerhand um mehr als ein Jahr vorgezogen hat). Diese muss folglich durch die Simulation einer existentiellen Bedrohung und durch „alternative Fakten“ angekurbelt werden. Gleichzeitig ist Putin im Unterschied zu seinem Kiewer Kontrahenten Wolodymyr Selenskij das Gegenteil eines charismatischen Führers. Sein Charisma steht und fällt mit den Mauern des Kremls, hinter denen er sich verschanzt. Das galt für alle Schlüsselmomente seiner Herrschaft, beginnend mit dem Untergang des Atom-U-Boots Kursk im August 2000. Besonders plastisch kam dieses Dilemma seiner Machtinszenierungen während der Pandemie zum Ausdruck, als seine Paranoia zu absurden Quarantänevorschriften führte.

War die Stabilisierung des Landes nach den tumultartigen 1990er-Jahren Putins Markenzeichen und Erfolgsrezept in seinen ersten beiden Amtszeiten , so sind die politische und die wirtschaftliche Stabilität nunmehr eine Bedingung dafür, dass ihn das Volk weiter akzeptiert. Mit seiner fahrlässigen und verbrecherischen Kriegsentscheidung hat Putin seine Macht jedoch selbst aufs Spiel gesetzt. Will er das bis zur Wahl vergessen machen, darf folglich nichts zwischen ihn und die „neue Normalität“ des Kriegs im Nachbarland und die westlichen Sanktionen kommen – die Stabilitätsillusion muss aufrechterhalten werden. Die wiederholten Angriffe der Ukraine auf die Krim und auf Belgorod und andere russische Städte im Grenzgebiet aber zeigen, dass der Krieg seinem Urheber näherrückt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor:

Hans-Joachim Spanger ist assoziierter Wissenschaftler am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt. Er ist seit 2015 Regionalkoordinator für die Region Osteuropa, Kaukasus und Zentralasien des Bertelsmann Transformationsindex.

Hans-Joachim Spanger.
Hans-Joachim Spanger. Beigestellt.

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