Gastkommentar

„Ein bisschen Napoleon“: Macrons strategischer Fauxpas

Der Begriff „Neutralität“ scheint an Aktualität verloren zu haben und wird häufig der Lächerlichkeit preisgegeben.

Die Gedankenspiele von Frankreichs Präsidenten, Emmanuel Macron, westliche Bodentruppen in das ukrainische Kriegsgebiet zu senden, haben zu Recht europaweit Empörung ausgelöst. Die Reaktion von Wladimir Putin ließ nicht lang auf sich warten: Er sprach von einem möglichen Nuklearwaffeneinsatz. Experten und Politiker warnen vor einem Dritten Weltkrieg, sollte die Nato auf dem Kriegsschauplatz intervenieren. Die neue Dimension in der Eskalationsspirale zwischen dem Westen und Russland zeigt deutlich auf: Nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine wird es – womöglich nach den Präsidentschaftswahlen in den USA – zu einem Einschnitt kommen. Was wären die Optionen für die EU und für Österreich?

Anlässlich des 200. Todestags von Napoleon vor fast drei Jahren würdigte Macron den Franzosen als großen Staatsmann, der sich jedoch „bei seinen Eroberungen nie um menschliche Verluste“ gekümmert habe. Das Gleiche trifft auf Putin zu. Es rechtfertigt aber nicht Macrons Ansinnen, das er ohne Rücksichtnahme auf die anderen EU-Mitgliedstaaten zum Ausdruck gebracht hat.

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Die Entsendung von Nato-Einheiten würde zu einer Ausweitung des Kriegs führen, dem Millionen von Menschenleben zum Opfer fielen. Im Gegensatz zu den USA und Kanada befindet sich Europa nämlich nicht in einer „Splendid Isolation“, einer strategisch günstigen Abgeschiedenheit. Kriegerische Handlungen in der EU würden Europas Wirtschaft jahrelang lähmen – ganz abgesehen davon, dass kein Mitgliedsstaat auf eine Kriegsökonomie eingestellt ist.

Wieso spielt Macron Napoleon?

Was Macron, den die deutsche „Zeit“ als „ein bisschen Napoleon“ bezeichnet hat, zu seiner Aussage bewogen hat, ist Stoff für vielerlei Spekulationen. Wollte er damit Putin ein Warnsignal senden? Hat er versucht, mit einer Drohkulisse dem US-amerikanischen Nato-Partner zu imponieren? Oder ging es ihm nur darum, sich als Lenker eines fast in jeder Krise zerrütteten Europas zu inszenieren? Die Rechnung ging jedenfalls für keines dieser Motive auf. Im Gegenteil: Die Außenwirkung seiner Botschaft hat Putin in die Hände gespielt, denn eine Spaltung in der EU offenbart nur ihre Schwäche.

Auch Österreich sollte seine Schlüsse daraus ziehen. Die (etwa von Neos erwogene) Mitgliedschaft in der Nato dürfte angesichts dieser Entwicklungen gar nicht mehr zur Debatte stehen. Zwei große Missverständnisse liegen einem solchen Beitritt nämlich zugrunde: Erstens ist die Nato kein reines Verteidigungsbündnis. Man erinnere sich nur an die Nato-Intervention in Libyen 2011, durch die das einst wohlhabendste Land Afrikas in einen Failed State, ein Bürgerkriegsland, verwandelt wurde. Die Folgen sind in Europa bis heute spürbar.

Zweitens würde eine Mitgliedschaft im transatlantischen Bündnis nicht automatisch bedeuten, dass Österreich sein Bundesheer durch ein Berufsheer aus Freiwilligen ersetzt. In Finnland, dem jüngsten Nato-Mitglied, gilt weiterhin die allgemeine Wehrpflicht. In Deutschland wird gerade diskutiert, die seit 2011 abgeschaffte Wehrpflicht für Männer und Frauen wieder einzuführen. Bei einer österreichischen Nato-Mitgliedschaft würde das bedeuten, dass potenziell jeder wehrpflichtige Österreicher in Kriegsgebiete geschickt werden könnte. Die Zahl der Freiwilligen wird sich in Grenzen halten, wie das Beispiel Deutschland zeigt.

Alternativen zur Nato?

Inmitten der Militarisierung Europas scheint der Begriff „Neutralität“ an Aktualität verloren zu haben und wird häufig der Lächerlichkeit preisgegeben. Dabei sollte diese mehr denn je geachtet werden, weil sie einen Verhandlungsspielraum bietet.

Für das neutrale Österreich gibt es andere Alternativen als einen Nato-Beitritt, der unser Land nicht sicherer machen würde. Eine engere militärstrategische Kooperation mit den übrigen bündnisfreien Staaten wie der Schweiz wäre eine Option.

Der Vorschlag von Bundeskanzler Karl Nehammer, nicht westliche Brics-Staaten als Vermittler im Ukraine-Krieg einzusetzen, ist konstruktiv. Allerdings hätte er viel früher zur Sprache gebracht werden müssen. China könnte angesichts der sich zuspitzenden Lage in Taiwan den Westen vor den Kopf stoßen, denn die USA werden mit Sicherheit im Pazifik Stellung beziehen. Schon der frühere US-Präsident Barack Obama forcierte eine Ostasien-Strategie.

Kompromisslösung möglich

Die Wahl eines republikanischen US-Präsidenten oder ein Territorialkonflikt im Südchinesischen Meer würde dazu führen, dass die Karten im Ukraine-Krieg neu gemischt werden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wäre ein Kompromiss denkbar, der laut Pierre Hazan, einem Experten am Schweizer Centre for Humanitarian Dialogue, unterschiedlich ausgeprägt sein könnte.

In einem wenig wahrscheinlichen Szenario entscheiden sich beide Kriegsparteien für einen andauernden Waffenstillstand, der jedoch auf lange Sicht keine Lösung wäre. Beim „koreanischen Modell“ gäbe es eine demilitarisierte Zone im Osten der Ukraine. In diesem Fall würde eine Sicherheitsgarantie gegen die Aufgabe der angestrebten ukrainischen Nato- und EU-Mitgliedschaft getauscht.

Der wohl günstigste Fall wäre eine Änderung der politischen Verhältnisse. Ein Konsens wird nämlich eher möglich, wenn Putin in Russland und Wolodymyr Selenskij nicht mehr an der Macht sein werden.

Stefan Haderer (*1983) ist Kulturanthropologe und Politikwissenschaftler in Wien. Sein Buch „Perspektivenwechsel: Beobachtungen im Jahrzehnt des Wandels“ erschien 2023.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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