Gastkommentar

Alexej Nawalny ist nicht umsonst gestorben

(c) Peter Kufner
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Nawalnys Rückkehr nach Russland war nicht sinnlos. Offener Ungehorsam kratzt an der Fassade totaler Kontrolle einer Diktatur.

Als der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny am 17. Januar 2021 in Berlin, wo er nach seiner Vergiftung mit dem Nervengift Nowitschok behandelt worden war, einen Flug nach Moskau antrat, erklärte er öffentlich, er sei froh, nach Hause zu fahren. Doch er wusste natürlich um die Risiken: eine lange Gefängnisstrafe, Folter und sogar seinen Tod.

Nawalny, der am 16. Februar in einer arktischen Strafkolonie zu Tode gekommen ist, sah sich mit einem Dilemma konfrontiert, vor dem so gut wie alle politischen Dissidenten stehen: im Exil zu leben und in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, oder sich einem repressiven Regime entgegenzustellen und zu riskieren, als Märtyrer zu enden. So oder so sind die Chancen, die von ihnen abgelehnten Regierungen zu stürzen, praktisch null.

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Reich belohnte Konformität

Selbst diejenigen, die Unterdrückungsregime nicht aktiv herausfordern – insbesondere jene, die die Mittel zur Flucht haben –, stehen vor einer ähnlichen Entscheidung: sich ein neues Leben im Ausland aufzubauen, wo man ihnen womöglich keinen warmen Empfang bereitet, oder in ihren Heimatländern zu bleiben und unter dem korrumpierenden Einfluss der Diktatur zu leben. Diese Korruption wird häufig versüßt, indem Regime Konformität reich belohnen – und jene wenigen, die sich ihr verweigern, vernichten.

Besonders bitter ist dieses Dilemma, weil es eine Kluft schafft zwischen jenen Abweichlern, die bleiben, und jenen, die gehen – eine Kluft, von der Unterdrückungsregime profitieren. Menschen können sich aus allen möglichen Gründen zum Bleiben entschließen, doch die bloße Tatsache ihres Bleibens führt dazu, dass sie von den Exilanten rasch als unmoralische Handlanger der Diktatur verurteilt werden. Wer sein Land verlässt, wird derweil beschuldigt, es im Austausch für ein luxuriöses Leben im Ausland verraten zu haben.

Das war im Nazi-Deutschland der 1930er-Jahre der Fall. Thomas Mann, der ausreichend berühmt war, um im Exil eine wichtige Stimme zu bleiben, brandmarkte jene deutschen Schriftsteller, die weiter im Dritten Reich lebten; ihre Werke, so äußerte er später, seien derart kompromittiert, dass sie wertlos geworden seien. Einige dieser Schriftsteller – die ebenfalls Gegner des Nazi-Regimes waren – warfen Mann vor, er habe es vorgezogen, bequem in Kalifornien zu leben, statt Zeugnis abzulegen über das, was zu Hause passierte.

Das Dissidenten-Dilemma

Eine ähnliche Dynamik ist ein ständiges Merkmal des modernen Chinas: Manche, die der kommunistischen Diktatur zu Hause Widerstand leisten, kritisieren die chinesischen Dissidenten im Ausland hohnlächelnd als irrelevant und realitätsfremd. Und sie zeigt sich im heutigen Russland. So wurde der enorm mutige, 2021 für seine Verteidigung geistige Freiheit mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Journalist Dmitri Muratow von einigen russischen Exilanten für seinen Entschluss kritisiert, in Russland zu bleiben – und das trotz seines mutigen Widerstands gegen den Krieg in der Ukraine.

Es gibt keine „richtige“ Antwort auf das Dissidenten-Dilemma. Es gibt gleichermaßen gute Gründe zu gehen wie zu bleiben, und sie sind oft von den persönlichen Umständen abhängig. Welchen Sinn also hatte Nawalnys Entscheidung, sein Leben für eine Sache zu riskieren, die er zumindest kurzfristig nie würde erreichen können? Weder seine zu erwartende Ermordung noch die Alternative, in Westeuropa zu bleiben, hätte der Herrschaft des russischen Präsidenten, Wladimir Putin, ein Ende bereitet.

Nawalnys Entscheidung hatte trotzdem Sinn

Trotzdem hatte Nawalnys Entscheidung einen Sinn. Offener Ungehorsam kratzt an der Fassade totaler Kontrolle einer Diktatur. Eine Diktatur kann sich nicht allein auf militärische Macht oder die Furcht vor der Geheimpolizei stützen; die Menschen müssen überzeugt sein, dass ihre Unterwerfung unter einen Tyrannen normal und Widerstand anomal und sogar eine Form des Wahnsinns ist. Das ist der Grund, warum sowjetische Dissidenten häufig in psychiatrische Einrichtungen gesperrt wurden statt ins Gefängnis.

Nawalnys Rückkehr nach Russland – egal, wie vergeblich sie erscheinen mochte – zeigte, dass das Eintreten für die geistige Freiheit und die freie Meinungsäußerung eine rationale Reaktion auf die Tyrannei ist. Sein offener Ungehorsam signalisierte anderen, die genauso empfanden, aber denen es an Nawalnys außergewöhnlichem Mut fehlte, dass sie nicht allein waren.

Und da ist noch etwas anderes. Indem sie Konformität belohnen, die Menschen dazu bringen, Lügen und Propaganda zu wiederholen, und Freunde und Verwandte zwingen, einander zu verraten, bringen Diktaturen das Schlimmste im Menschen zum Vorschein. Sie schaffen eine Kultur der Angst, des Misstrauens und Verrats. Daran ist nichts speziell Russisches, Deutsches oder Chinesisches. Viele Nationen wurden zu unterschiedlichen Zeiten von Unterdrückungsherrschern zu einem Zerrbild ihrer selbst verformt – doch nicht zwangsläufig für immer. Regime werden besiegt. Tyrannen sterben.

Die Beispiele vieler anderer

An dieser Stelle spielt das von politischen Märtyrern vorgelebte Beispiel eine wichtige Rolle. Von Diktaturen verformte Gesellschaften müssen eine moralische Basis finden, auf der sie etwas Besseres aufbauen können. Die geistig-seelische Verfassung eines an Versklavung und Verfolgung gewöhnten Volkes muss wiederhergestellt werden. Das Vorbild einiger tapferer Individuen, die für die Freiheit einstanden, selbst wenn es sinnlos erschien, trägt zu diesem Prozess bei.

Der französische Verwaltungsbeamte Jean Moulin, der die französische Resistance anführte und von der Gestapo 1943 zu Tode gefoltert wurde, erlebte das Ende der von ihm bekämpften Nazi-Besatzung nie.

Den evangelischen Pastor Dietrich Bonhoeffer richteten die Nazis in April 1945 hin, drei Wochen vor Adolf Hitlers Selbstmord.

Der chinesische Schriftsteller Liu Xiaobo, der 1989 während des Aufstands auf dem Platz des Himmlischen Friedens nach China zurückkehrte, kam für den Rest seines Lebens immer wieder ins Gefängnis und starb 2017 in der Haft, nachdem er es nicht geschafft hatte, das Einparteienregime seines Landes zu demontieren.

Nawalny hatte keine Chance, Putins neozaristische Herrschaft zu stürzen. Doch die einzige Hoffnung auf den Aufbau von Gesellschaften, die die Freiheiten der Menschen schützen können und das Beste in ihnen hervorbringen, beruht in den Vorbildern, die ihr Tun bietet.

Aus dem Englischen von Jan Doolan.
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E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Ian Buruma
(*1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. Er ist Autor, zuletzt des in Kürze erscheinenden Buches „Spinoza: Freedom’s Messiah“ (Yale University Press, 2024).

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