Wort der Woche

Wie funktioniert gesellschaftlicher Wandel?

Um die Komplexität von Transformationsprozessen besser zu verstehen, haben Sozialwissenschaftler nun ein neues Instrument entwickelt: das Socioscope.

Wir befinden uns mitten in einer digitalen und einer ökologischen Transformation, die beide unsere Leben grundlegend verändern. Die Erforschung solcher Transformationen ist derzeit ein ganz heißes Thema in der Wissenschaft. Gängigen Theorien zufolge sind Transformationen hochgradig nicht-lineare Prozesse. Sie gehen typischerweise von lokalen Initiativen und Nischen (Mikroebene) aus, breiten sich über Prozesse wie etwa Nischenkumulation oder Hybridisation sukzessive in einer Mesoebene aus und verändern schließlich ganze Systeme (Makroebene). Doch wie diese Ebenen genau zusammenhängen und wie man die Entwicklung vielleicht sogar positiv beeinflussen könnte, ist derzeit in weiten Teilen unklar.

Die Lücke zwischen dem Wissen über Prozesse auf der Mikroebene und jenen auf der Makroebene sei „eines der bisher ungelösten Probleme der Sozialwissenschaften“, schreibt die Grande Dame der österreichischen Wissenschaftsforschung, Helga Nowotny, in ihrem neuen „Policy Brief“ (http://helga-nowotny.eu). Und zwar deshalb, weil die Systeme von „überwältigender Komplexität“ seien und es gleichzeitig viel zu wenig empirische Evidenz für verallgemeinerbare Vergleiche gebe.

Nowotny hat gemeinsam mit Saadi Lahlou, Direktor des Pariser Institut d‘Études Avancées, ein neues Instrument der sozialwissenschaftlichen Forschung namens „Socioscope“ entwickelt, das einen Schritt weiterhelfen könnte. Dabei handelt es sich um eine digitale Plattform mit strikten Protokollen zur Datenerhebung. Ein Prototyp enthält derzeit detaillierte Daten über weltweit mehr als 60 lokale Initiativen aus dem Ernährungsbereich (https://thesocioscope.org). Dabei zeigte sich zum Beispiel bereits, dass neben dem in einer Marktwirtschaft üblichen Streben nach Optimierung auch viele „nicht-monetäre Währungen“ eine große Rolle spielen, etwa Werte wie Solidarität oder Reputation.

Mit Unterstützung der Schweizerischen NOMIS Stiftung wird der Prototyp nun in den nächsten vier Jahren u. a. am Complexity Science Hub Vienna weiterentwickelt. Erhoben werden sollen Daten über weltweit 600 Initiativen, die dann als breite Basis für Modellierungen und Netzwerkanalysen dienen können. Das Projekt sei „ambitioniert und zugleich riskant“, meint Nowotny. Doch der mögliche Gewinn ist groß – deutliche Erkenntnisfortschritte über die laufenden Transformationsprozesse wären tatsächlich ein großer Wurf, der unserer Zukunft zum Besseren verändern könnte.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist nun Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com
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