Heute Nacht werden die Academy Awards zum 96. Mal verliehen. Favoriten, Underdogs und »Snubs«: Wir fassen zusammen.
Die Zeichen stehen auf Nummer sicher. Nach allerlei Kontroversen, Turbulenzen und Überraschungen positionieren sich die Oscars heuer wieder einmal als verlässliches, unaufgeregtes Konsens-Event – im Hinblick auf den etwas biederen, aber bewährten Moderator Jimmy Kimmel ebenso wie auf die Nominierten und voraussichtlichen Gewinner.
Die Top-Favoriten „Barbie“ und „Oppenheimer“ sollen in diesen unsicheren Zeiten möglichst viele Filmfans in ihrem Oscar-Enthusiasmus vereinen: Jung und Alt, Mann und Frau, Popcorn-Plebejer und Cineasten-Snobs. Diversitäts- und Genderdebatten sind merklich in den Hintergrund getreten; dass in der Hauptkategorie neuen „Inklusionsstandards“ Tribut gezollt wurde, merkt man erst auf den zweiten Blick.
Die Polit-Themen des Tages, von Trump bis Krieg, werden zwar gewiss auch dieses Jahr auf der Bühne des Dolby Theatre Platz finden. Dass diese Oscar-Show medialen Disput provoziert, so wie es jüngst die Berlinale-Gala tat, ist jedoch unwahrscheinlich: Die meisten Vorab-Tischgespräche drehen sich um die Frage, wie Ryan Goslings Live-Darbietung der „Barbie“-Ballade „I’m Just Ken“ aussehen wird – und ob Messi, der herzige Hund aus „Anatomie eines Falls“, seine 15 Minuten Ruhm genießt.
Das aktuelle Weltgeschehen sei aufrüttelnd genug, da dürfe, so der Tenor, Hollywoods größte Promi-Gala – die heuer übrigens eine Stunde früher als üblich beginnt – ruhig den leichten Musen frönen. Also gut: Frönen wir mit.
BESTER FILM
Nominiert sind: Die Satire „American Fiction“, das Gerichtsdrama „Anatomie eines Falls“, das Puppenepos „Barbie“, der Weihnachtsfilm „The Holdovers“, der Historienthriller „Killers of the Flower Moon“, die Biopics „Maestro“ und „Oppenheimer“, die melancholische Romanze „Past Lives – In einem anderen Leben“, der filmische Bildungsroman „Poor Things“ und die Holocaust-Täterstudie „The Zone of Interest“.
Wird gewinnen: OPPENHEIMER. 2023 war ein Glücksfall für die Oscars: Zwei der kommerziell erfolgreichsten Produktionen des Jahres kamen auch bei der Kritik sehr gut an – und sorgten überdies im (PR-technisch ausgenutzten) Verbund für Stürme im Diskursglas. Nun stellt sich eigentlich nur noch die Frage, wem die Academy den Vorzug gibt: „Barbie“ oder „Oppenheimer“. Greta Gerwigs vergnüglicher, feministisch unterfütterter Mattel-Werbefilm wäre für viele wohl Sieger der Herzen, doch angesichts der angespannten Weltlage dürfte die Top-Trophäe an Christopher Nolans kriegskritische Filmbiografie des Atombomben-Erfinders gehen.
Sollte gewinnen: ANATOMIE EINES FALLS. Dass Justine Triets Cannes-Gewinner auch im Dolby Theatre den Hauptpreis einheimst, scheint ausgeschlossen: zu eminent ist die Konkurrenz. Dabei wäre er, noch mehr als „Oppenheimer“, der Film „zur Zeit“; handelt er doch von unserer medial verstärkten Neigung, sich unreflektierten Urteilen hinzugeben.
Übergangen: ALL OF US STRANGERS. Andrew Haighs eindringliches Liebesdrama über die Beziehung zwischen zwei einsamen Männern ist kein Meisterwerk. Dennoch schade, dass es trotz Starbesetzung und begeisterten Kritiken im heurigen Oscar-Rennen fehlt.
BESTE REGIE
Justine Triet („Anatomie eines Falls“), Martin Scorsese („Killers of the Flower Moon“), Christopher Nolan („Oppenheimer“), Yorgos Lanthimos („Poor Things“), Jonathan Glazer („The Zone of Interest“).
Wird gewinnen: CHRISTOPHER NOLAN. Der 53-jährige britisch-amerikanische Regisseur ist bekannt als Gratwanderer zwischen der Welt der krawalligen Blockbuster-Unterhaltung und der des intellektuell ambitionierten Kunstkinos. Weil er sich seine Sporen als Garant für Kassenschlager vor allem mit „Batman“-Filmen verdient hat, war Nolan der Academy lang suspekt. Doch mit „Oppenheimer“ gelang ihm erstmals ein eleganter Spagat zwischen Spektakel und Seriosität. Und weil Greta Gerwig, Nolans größte Konkurrentin im heurigen Oscar-Rennen, in der Regie-Kategorie übergangen wurde, dürfte ihm auch dieser Goldbub sicher sein.
Sollte gewinnen: YORGOS LANTHIMOS. Die Karriere, die der Grieche seit seinen Anfängen im europäischen Filmfestivalzirkus hingelegt hat, macht staunen: Stück für Stück stieß er in höhere Budget-Gefilde vor, ohne seine eigenwillige, surrealistische Handschrift je komplett aufzugeben. Mit dem aberwitzigen filmischen Bildungsroman „Poor Things“ ist er am Zenit seiner Kunst angelangt.
Übergangen: GRETA GERWIG. Groß war die Aufregung in sozialen Medien, als bekannt wurde, dass zwar „Barbie“ als Film, nicht aber seine Regisseurin eine Oscar-Nominierung erhalten hatte. Wem es dabei um Sexismuskritik geht, sollte allerdings nicht vergessen, dass es auch andere verdiente Filmemacherinnen gibt, die von der Academy außen vor gelassen wurden – z. B. Celine Song, Urheberin der Romanze „Past Lives“.
BESTE HAUPTDARSTELLERIN
Annette Bening („Nyad“), Lily Gladstone („Killers of the Flower Moon“), Sandra Hüller („Anatomie eines Falls“), Carey Mulligan („Maestro“), Emma Stone („Poor Things“).
Wird gewinnen: LILY GLADSTONE. In Martin Scorseses epischem Historienkrimi gibt Gladstone die indigene Frau eines Mannes, der zum Komplizen rassistischer Verbrechen wird. Die Rolle ist eine Spur zu passiv, aber faszinierend in ihrer Widersprüchlichkeit. Der erwartbare Sieg der jungen Schauspielerin mit indigenen Wurzeln wäre also nicht nur im Sinne der Diversität ein Triumph.
Sollte gewinnen: EMMA STONE. Der „La La Land“-Star hat sich zu einer der wagemutigsten Darstellerinnen Hollywoods gemausert. In „Poor Things“ zieht sie als Frau, die sich von Grund auf selbst erfindet, alle Register ihres Könnens; das gilt im Übrigen auch für die Deutsche Sandra Hüller in „Anatomie eines Falls“.
Übergangen: CAILEE SPAENY. Ja, Margot Robbie wurde als „Barbie“ „gesnubbt“. Doch sie war schon besser. Spaeny in „Priscilla“ hingegen? Eine Entdeckung.
BESTER HAUPTDARSTELLER
Bradley Cooper („Maestro“), Colman Domingo („Rustin“), Paul Giamatti („The Holdovers“), Cillian Murphy („Oppenheimer“), Jeffrey Wright („American Fiction“).
Wird gewinnen: PAUL GIAMATTI. Die Buchmacher sind gegen ihn. Trotzdem stehen die Chancen, dass der 56-Jährige den Durchmarsch von „Oppenheimer“ (sprich: einen Sieg Cillian Murphys in der Schauspielsparte) verhindert, nicht schlecht: Giamattis Rolle in „The Holdovers“ – ein griesgrämiger Geschichtslehrer mit goldenem Herz – eignet sich einfach zu gut für die überfällige Würdigung dieses Hollywood-Veteranen.
Sollte gewinnen: PAUL GIAMATTI. Nichts gegen Cillian Murphys vielschichtiges Porträt von J. Robert Oppenheimer – doch Christopher Nolans filmischer Budenzauber stiehlt ihm letztlich die Show. Giamatti hingegen ist in „The Holdovers“ selbst das Zentralspektakel.
Übergangen: MICHAEL FASSBENDER. Der deutsch-irische Star beeindruckte heuer als hyperbeherrschter Auftragsmörder in David Finchers „The Killer“.
BESTE NEBENDARSTELLERIN
Emily Blunt („Oppenheimer“), Danielle Brooks („Die Farbe Lila“), America Ferrera („Barbie“), Jodie Foster („Nyad“), Da’Vine Joy Randolph („The Holdovers“).
Wird gewinnen: DA’VINE JOY RANDOLPH. Hierzulande noch wenig bekannt, spielt die 37-Jährige im Drama „The Holdovers“ die abgeklärte Köchin an einer vorwiegend weißen Privatschule mit einer fein abgestimmten Mischung aus Stolz, Humor und Verbitterung – und behauptet sich dabei unzweifelhaft neben Paul Giamatti und Dominic Sessa, den beiden Hauptdarstellern des Films.
Sollte gewinnen: DANIELLE BROOKS. Achtung, Ironie: Da’Vine Joy Randolph begann ihre Karriere als Musical-Darstellerin – und wird nun bei den Oscars voraussichtlich eine ebensolche ausstechen. Schade: Brooks’ Auftritt in der Musicalversion des Südstaaten-Epos „The Color Purple“ steckt an mit Chuzpe und Courage – auch gesanglich.
Übergangen: JULIANNE MOORE. Es wäre Moores Oscar No. 2, doch so schön fies wie in „May December“ war sie nie.
BESTER NEBENDARSTELLER
Sterling K. Brown („American Fiction“), Robert De Niro („Killers of the Flower Moon“), Robert Downey Jr. („Oppenheimer“), Ryan Gosling („Barbie“), Mark Ruffalo („Poor Things“).
Wird gewinnen: ROBERT DOWNEY JR. Erst Wunderkind und Enfant terrible, dann Drogen-Problembär, dann „Iron Man“-Ikone, und nun Elder Statesman der Hollywood-Schauspielelite: Robert Downey Jr. hatte ein filmreifes Leben. Mit der Rolle des facettenreichen Bürokraten Lewis Strauss in „Oppenheimer“ tritt er offiziell in die würdevolle Spätphase seiner Karriere ein. Die Zeit ist reif für seinen ersten Oscar.
Sollte gewinnen: MARK RUFFALO. Bei allem Respekt für seine Rolle in „Oppenheimer“: An diesem Punkt seiner Hollywood-Laufbahn stünde ein Oscar für Downey Jr. als bester Hauptdarsteller an. Für Mark Ruffalo eh auch – aber sein tragikomischer Schwerenöter aus „Poor Things“ ist pures Nebenrollen-Gold.
Übergangen: JACOB ELORDI. Alle schwärmen vom 1,96-Meter-Mann aus „Saltburn“ und „Priscilla“. Alle außer der Academy.
BESTER INTERNATIONALER FILM
„Io Capitano“ (Italien), „Das Lehrerzimmer“ (Deutschland), „Perfect Days“ (Japan), „Die Schneegesellschaft“ (Spanien), „The Zone of Interest“ (Großbritannien).
Wird gewinnen: THE ZONE OF INTEREST. Wie dereinst bei Michael Hanekes „Amour“ hat Jonathan Glazers beunruhigende Holocaust-Täterstudie beim Auslandsoscar den Startvorteil einer zusätzlichen Nominierung als „bester Film“ – und den Preis auch aufgrund globaler Sorge um das Aufbranden von Antisemitismus so gut wie gewonnen.
Sollte gewinnen: IO CAPITANO. „The Zone of Interest“ wäre fraglos ein verdienter Sieger. Doch Matteo Garrones herb-humanistisches Drama über die aufreibende Odyssee senegalesischer Flüchtlinge ebenso.
Übergangen: FALLEN LEAVES. Der finnische Kultregisseur Aki Kaurismäki, volltrunken bei den Oscars: Ein Traum, der wohl niemals wahr werden wird.
BESTE DOKU
„20 Tage in Mariupol“, „Bobi Wine: The People’s President“, „To Kill a Tiger“, „Olfas Töchter“, „Die unendliche Erinnerung“.
Wird gewinnen: 20 TAGE IN MARIUPOL. Das Dokument einer Invasion als Lanze für die US-Unterstützung der Ukraine: Der Sieger in dieser Kategorie steht fest.
Sollte gewinnen: OLFAS TÖCHTER. Zwei junge Frauen schließen sich dem IS an. Warum? Kaouther Ben Hanias experimenteller Dokumentarfilm schürft nach Antworten – tief und fernab von Klischees.
Übergangen: NOTRE CORPS. Claire Simons expansives Porträt einer Klinik für Geburten und Frauenheilkunde: Kino wider die Tabus.
Oscars 2024
In der Nacht auf Montag werden die 96. Academy Awards im Dolby Theatre in Los Angeles
verliehen.
Moderieren wird die Gala der Talkshow-Host Jimmy Kimmel, wie auch schon 2017, 2018 und 2023.
Neu ist heuer, dass alle Nominierten der Kategorie Bester Film mindestens zwei von vier Diversitätskriterien erfüllen mussten – diese betreffen die Besetzung des Films, das Team dahinter oder die Inhalte.
Wo sind die Oscars zu sehen? Der US-Sender ABC strahlt die Gala aus, hierzulande überträgt sie ORF 1 ab Mitternacht.