Schweiz

Eine Familientragödie auf 3500 Metern Höhe: Erfrorene Tourengeher wollten für Skirennen trainieren

In diesem Gebiet zwischen Zermatt und Arolla wird noch nach der sechsten Person der Gruppe gesucht.
In diesem Gebiet zwischen Zermatt und Arolla wird noch nach der sechsten Person der Gruppe gesucht. APA / AFP / Gabriel Monnet
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Die Schweizer Skitourengeher, die in der Nacht auf Sonntag in den Walliser Alpen ums Leben gekommen sind, trainierten offenbar für ein legendäres Skitourenrennen, die „Patrouille des Glaciers“ Mitte April. Fünf von ihnen kommen aus einer Familie. Auf die sechste noch vermisste Personen konzentriert sich nun die Suche.

Am frühen Morgen sind sie zu ihrer Skitour aufgebrochen: drei Brüder, der Onkel, ein Cousin und eine Freundin der Familie. Vom Zermatt aus wollen die sechs Schweizer am Samstag die Route nach Arolla nehmen. Das Matterhorn ist links, die Dent Blanche rechts. Doch die Tourengeher kommen am Samstagabend nicht zu Hause an, am Montag werden fünf der Vermissten tot auf 3500 Meter geborgen und ins Tal geflogen. Ein Wintersturm hat sie überrascht. Obwohl sie als erfahrene Skifahrer gelten, erfrieren sie im Hochgebirge. Was war passiert? Chronologie einer Familientragödie.

Die Skitour, die sie sich für diesen Tag vorgenommen haben, wird als anstrengend beschrieben, immerhin geht der Aufstieg auf über 2000 Meter und dauert sechs Stunden lang. Doch als riskant gilt die Tour in den Walliser Alpen zwischen der Schweiz und Italien eigentlich nicht.

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Dennoch kommen die sechs Tourengeher am Samstagnachmittag nicht wie mit ihren Familien vereinbart in die Ortschaft Arolla zurück. Während am Morgen das Wetter noch relativ gut ist, verschlechtert sich die Lage im Laufe des Tages zusehends. Es ist eisig kalt geworden. Ein Wintersturm fegt über die Berge hinweg, Orkanböen erreichen bis zu 120 Stundenkilometer. Innerhalb kurzer Zeit fällt so viel Schnee, dass die Gruppe kaum mehr weiterkommt.

Bergrettung kann Vermisste orten

Kurz nach 16 Uhr alarmiert ein Familienmitglied die Polizei, weil die fünf Männer und die Frau nicht und nicht zurückkommen. Einer der Skifahrer aus der Gruppe schafft es, mit dem Handy die Bergrettung zu kontaktieren. Es gelingt, den Standort der Vermissten zu orten. Einer aus der Gruppe kann offenbar noch die Ratschläge der Bergrettung entgegennehmen. Doch sie nützen der ganzen Gruppe nicht mehr. Sie befinden sich auf rund 3500 Meter Höhe, unterhalb des Gipfels der Tête Blanche.

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Eine riesige Suchaktion startet, insgesamt sind sechs Helikopter im Einsatz, darunter ein Super Puma der Schweizer Armee, sowie 35 Rettungskräfte. Doch es schneit so viel, dass es die Rettungskräfte zwar auf bis 3000 Meter Höhe schaffen, ihre Suche aber wieder abbrechen müssen. Die Unwetterfront zieht nicht weiter. Die Lawinengefahr liegt an diesem Wochenende zwischen Stufe drei (erheblich) und vier (gross).

Im Schneefeld erfroren gefunden

Erst am Sonntag um 18.30 Uhr können die Bergretter und ein Arzt zu der Stelle vordringen, an der die Gruppe vermutet wird. Bis zu einer Hütte werden sie geflogen werden, dann arbeiten sie sich vier Kilometer durch den Neuschnee. Im Schneefeld finden sie fünf der sechs vermissten Personen erfroren auf. Zwei von ihnen finden sie auf dem Schnee, die anderen sind vom Neuschnee bedeckt. Offenbar wollten sie sich eine Höhle schaufeln, wie ihnen der Rettungsdienst geraten hatte.  „Man hat gesehen, dass sie das versucht haben, aber leider waren sie sehr schlecht ausgerüstet, und mit diesen kleinen Schaufeln in dem harten Schnee war das ziemlich sinnlos“ sagt Anjan Truffer, der Chef der Bergrettung Zermatt, später. Er ist einer der Einsatzkräfte, die sich durch den Neuschnee kämpfen und die Leichen findet. Am Sonntagabend werden die Toten ins Tal geflogen.

Kein LVS-Signal der sechsten Person

Die sechste Person gilt noch immer als vermisst. Die Polizei hat die Identität dieser sechsten Person nocht nicht bekannt gegeben. Die Chancen seien groß, dass der sechste Skifahrer in unmittelbarer Nähe zum Fundort der anderen Gruppenmitglieder ist. „Dafür haben wir klare Indizien. Seine Ski und sein Rucksack wurden bei den anderen gefunden“, sagte Rettungschef Truffer zur Zeitung „20 Minuten“. Als einen möglichen Grund, warum der Vermisste nicht geortet werden kann, meint Truffer: „Das Gelände ist voller Gletscherspalten. Es könnte sein, dass der Tourengänger in so eine reingefallen ist. Das ist aber nur Spekulation.“

Vom noch Vermissten fehlt das Signal des Lawinen-Ortungsgeräts. Die fünf Tourengeher konnten dank des Tragens eines Lawinenverschüttetensuchgeräts (LVS) geortet und geborgen werden. Ein solches Gerät gehört zur Standardausrüstung jeden Skifahrers, der abseits der Piste unterwegs ist. Die Kurzintervall-Signale können auch unter einer tiefen Schneedecke ausfindig gemacht werden. „Wir wissen zurzeit nicht, was der Grund für das fehlende Gerät ist. Entweder hatte der sechste Tourenskigänger sein Gerät nicht eingeschaltet oder es hatte keine Batterie oder er hat kein Gerät getragen“, sagt Anjan Truffer Schweizer Medien an Dienstagabend.

Besteht noch Hoffnung für die sechste Person?

Besteht noch Hoffnung, diese Person lebend zu finden? „Wir haben Vermisste auch schon mehrere Tage später gefunden, Wunder passieren immer“, meint dazu Truffer. Realistisch gesehen sehe es aber wohl nicht gut aus. 

Das Matterhorn und der Riffelsee im Schweizer Kanton Wallis.
Das Matterhorn und der Riffelsee im Schweizer Kanton Wallis.Imago / P. Frischknecht

Von einer „großen Tragödie“ spricht der Polizeichef aus dem Kanton Wallis, Christian Varone, bei einer Pressekonferenz am Montag. Der Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd kondoliert noch am Sonntag den Angehörigen.

Der Chef der Walliser Polizei, Christian Varone, bei einer Pressekonferenz am Montag.
Der Chef der Walliser Polizei, Christian Varone, bei einer Pressekonferenz am Montag. APA / AFP / Fabrice Coffrini

Drei spielten bei der Musik, einer war Gemeinderat

Fünf der sechs am Berg erfrorenen Skitourengeher kommen aus einer Familie. Sie sind zwischen 21 und 58 Jahren alt und kommen aus dem kleine Walliser Dorf Vex beziehungsweise aus der Nachbargemeinde Evolène – zu dieser gehört die Ortschaft Arolla. Drei von ihnen spielten in der Musikkapelle des Ortes. Die Kapelle spielt auch am Sonntagabend, als das halbe Dorf sich zu einer Trauerfeier vor der Kirche versammelt. Einer von ihnen war im Gemeinderat tätig, erst vor zwei Wochen hat er sein Amt angetreten. Einer war Polizist im Kanton Wallis. Die Betroffenheit in Vex und in Evolène ist groß. Der Schock sitzt tief.

„Man weiß nicht mehr, wo vorne und hinten ist“

Anjan Truffer von der Bergrettung erzählt in Interviews mit Schweizer Medien am Montag von der sehr schwierige Rettungsaktion in „katastrophalen Bedingungen“. „Das Bild, welches wir vorgefunden haben, war unschön“, so Truffer. „Wenn man selbst als geübter Tourenskifahrer in eine solche Situation gelangt, weiß man rasch nicht mehr, wo vorne und hinten ist.“ Laut Truffer handelten die Tourengeher richtig, doch seien auch chancenlos gewesen.

Die fünf Männer und die Frau versuchten, sich in Höhlen einzugraben und sich so über die Nacht in den nächsten Tag zu retten. Doch auf 3500 Metern Höhe dürfte das Thermometer in dieser Nacht auf minus 15 Grad Celsius gesunken sein. Außerdem kam der eisige Wind dazu, die Lawinengefahr und die Gefahr von Gletscherspalten. Die sechs Tourenskifahrer waren zwar trainierte Athleten und kannten die Gegend, aber sie hatten keine geeignete Ausrüstung dabei, um die Nacht im Hochgebirge zu verbringen. Außerdem dürfte die Gruppe nicht zusammengeblieben sein bzw. sich verloren haben. Die Skitourengeher hätten alles unternommen, um sich zu schützen, sagt der Polizeichef Varone bei der Pressekonferenz.

Wollten beim legendären „Patrouille des Glaciers“ mitmachen

Vermutlich wollten sich die sechs Skifahrer auf das legendäre Skitourenrennen „Patrouille des Glaciers“ vorbereiten. Das Rennen findet alle zwei Jahre statt, das nächste Mal diesen April. Die Strecke von Zermatt nach Arolla, den sie am Samstag genommen haben, ist der erste Abschnitt des Rennens. Dabei hatten sie laut Schweizer Medien nur leichtes Gepäck, für eine Nacht im Freien waren sie nicht gerüstet.

Rettungschef Truffer sagte gegenüber dem Schweizer Radio und Fernsehen (SRF), er vermute, dass sie wegen des Trainings für die Patrouille des Glaciers so schlecht ausgerüstet waren. Man gehe davon aus, dass sie deshalb möglichst leicht unterwegs sein wollten. „Entsprechend leicht war ihr Gepäck – möglichst wenig und leichte Kleidung, kleine Rucksäcke, ultraleichtes Material.“ Einer der Verunglückten soll schon einmal bei dem Skitourenrennen mitgemacht haben.

War es fahrlässig, trotz der schlechten Wettervorhersagen in das Hochgebirge aufzubrechen? Darüber sind die Meinungen unter den Schweizer Bergführern geteilt. Auf 3000 Metern müsse man immer mit Wetterumschwüngen rechnen. Wichtig sei, den Zeitpunkt zu erkennen, an dem man die Tour abbrechen und umkehren muss. Diesen Zeitpunkt hat die Gruppe aus dem Wallis offenbar übersehen.

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