Leipziger Buchmesse

Das können wir empfehlen: 13 Romane für diesen Frühling

Die Literatur-Redaktion der „Presse“ hat aus den vielen Neuerscheinungen des diesjährigen Bücherfrühlings 13 lesenswerte Romane herausgepickt.

Barbara Kingsolver: „Demon Copperhead“, Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren. 864 S., geb., € 27,50 (dtv)
Barbara Kingsolver: „Demon Copperhead“, Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren. 864 S., geb., € 27,50 (dtv)

Leid und Würde der Hillbillys

Barbara Kingsolvers neuer Roman „Demon Copperhead“ ist eine virtuose, emotional mitreißende und aufwühlende Anverwandlung von Charles Dickens’ Roman „David Copperfield“. Ein aus Bubensicht erfrischend, deftig und berührend ­erzählter Coming-of-Age-Roman über schlimme Kindheitserfahrungen, Resilienz und Inseln des Guten. Zugleich eine große Erzählung über das Leben in Lee County im US-Bundesstaat Virginia, einem der ärmsten Countys der USA, und über die verheerenden Auswirkungen der seit Jahrzehnten anhaltenden Opioid-Krise.

Hillbillys, so werden diese Menschen in den Gebirgsregionen (das Gebirge sind die Appalachen) gern abfällig von Städtern genannt. Hinterwäldler, Landeier würde man bei uns am ehesten sagen. Viele, wie auch Demon und sein Umfeld, leben in Trailern. Aber das ist nicht das Schlechteste, sofern man in einer liebevollen Familie aufwächst. Eine solche Familie sind die Peggots, ein herzensgutes christliches älteres Ehepaar. Sie bieten ihrem Enkel Maggot ein Zuhause, dessen Mutter wegen Mordes an ihrem sie quälenden Partner hinter Gittern sitzt. Und sie kümmern sich rührend um dessen Freund Demon. Aber ihn aufzunehmen, nachdem seine Mutter an einer Überdosis gestorben ist und Demons sadistischer Stiefvater Stoner ihn fallen gelassen hat – das schaffen sie dann doch nicht. Schon davor wird Demon als gerade einmal Zehnjähriger nach einer fast tödlichen Überdosis der Mutter einer Pflegestelle zugewiesen, dem Haus von Mr Creaky. Dieser griesgrämige, emotional verrohte Farmer benutzt seine Pflegekinder, um die harte Arbeit auf seinen wenigen Tabakfeldern zu bewältigen. Barbara Kingsolver nutzt diese und andere Szenarien dazu, so ganz nebenbei die Wurzeln der wirtschaftlichen Misere der dortigen Landbevölkerung verständlich zu machen.

Demon bleibt trotz fast auswegloser Situationen ein Bub, der staunt, sich aufrappelt, sich berühren lässt und Hoffnung hat. Und Kingsolver gibt ihm die anschauliche, lebendige, deftige Sprache „ihrer Leute“. Denn die Gegend, über die Kingsolver schreibt, ist ihre Heimat. sim

Elias Hirschl: „Content“, Roman. 224 S., geb., € 24,50 (Zsolnay)
Elias Hirschl: „Content“, Roman. 224 S., geb., € 24,50 (Zsolnay)

Diese Dystopie ist zum Lachen

Es ist einer der beklemmendsten Trends der zeitgenössischen Literatur, dass die Dystopien so nah in der Zukunft angesiedelt sind, dass man sie mit der Gegenwart verwechseln könnte. Und die Probleme sind meist dieselben: Artensterben, Klimawandel, Überwachungsstaat, Rechtsruck. Zum Glück gibt es Autoren wie Ned Beauman und Elias Hirschl, die auch aus der Bedrohung einen Spaß machen: In „Content“ treffen wir auf zwei Mitarbeiterinnen der Firma „Smile Smile“, die für ein Onlineportal Klicks generieren. Das tun sie mit Listicles (den besten sieben Zwergen, die hinter einer erstaunlichen Anzahl von Bergen wohnen) oder mit Videos, in denen Gegenstände zerstört werden, ob via Hydraulikpresse oder Mikrowelle. Leider kommt da schon einmal eine Hand zu Schaden, was die Belegschaft nur kurz irritiert.

Was noch seltsam ist: Keiner weiß, wie diese Firma Geld verdient, die Seite hat keine Paywall und schaltet keine Werbung. Dazu kommen Stockwerke, zu denen keine Treppe führt, und wo kein Lift anhält. Was ist da los?

Elias Hirschl kennt man von „Slim Fit“, einer Groteske über den Fan eines feschen jungen Kanzlers. Auch hier haben wir einen Möchtegern-Aufsteiger, der brav nachbetet, was es an neoliberalen Glaubenssätzen so gibt, und, nachdem es mit ­einem Rote-Bete-Lieferservice nicht geklappt hat, nun die Firma „Brand Recogni­tion“ ins Leben ruft. Während die „regierungsgestützte“ Feuerwehr langsam und antriebslos sei, lösche „Brand Recognition“ privat und dezentral, hier herrsche der Wettstreit des freien Marktes. Jeder, der eine Flasche Wasser in der Tasche hat, darf mitmachen.

Jonas wird auch mit dieser Firma scheitern und der nächsten und alles als Lernprozess verbuchen, ein hoffnungsloser Fall. Für den Rest der Menschheit scheint es auch zu spät zu sein, überall tummeln sich Social-Media-Alter-Egos, und das Städtchen versinkt. Dafür gibt es zumindest für eine Figur ein Happy End. best

Cho Nam-Joo: „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“, Roman. Aus dem Koreanischen von Jan Hendrik Dirks. 280 S., geb., € 24,50 (Kiepenheuer & Witsch)
Cho Nam-Joo: „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“, Roman. Aus dem Koreanischen von Jan Hendrik Dirks. 280 S., geb., € 24,50 (Kiepenheuer & Witsch)

Ein Spagat in Südkorea

Mani, 37 Jahre alt, wollte einst Kunstturnerin werden. Ihre Mutter sparte sich das Geld für die teure Ausbildung praktisch vom Mund ab, aber trotz harten Trainings schaffte es Mani nicht, im Leistungssport anzukommen. Es fehlte ihr der Wille, sich täglich bis aufs Blut zu quälen.

Der Roman „Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah“ der südkoreanischen Autorin Cho Nam-Joo erzählt von zwei Zeitebenen aus die Geschichte jener Mani: Wir sehen sie als junges Mädchen, Spagat übend, von der Trainerin gequält, und dann als junge Frau, die immer noch bei den Eltern lebt, in einem armseligen Haus, das von der Immobiliengesellschaft bald abgerissen wird. Die Tristesse, die innerhalb Manis Familie herrscht, die einerseits den prekären finanziellen Verhältnissen geschuldet ist und andrerseits der ruppigen Beziehung, die die Mutter zu ihrer Tochter und zu ihrem Mann pflegt, beschreibt Cho Nam-Joo behutsam und ohne Wehleidigkeit gegenüber ihren Figuren. Die ältere Mani blickt mit Sympathie auf ihr jüngeres Ich; dass die ältere bald ihr Elternhaus verlassen muss, stimmt sie traurig. Als es so weit ist, sagt sie: „Das Leben hatte nicht einfach aufgehört wie ein Roman, ich hatte die endlos lange Zeit nicht überspringen können, sondern sie Minute für Minute durchleben müssen.“ Und das wird Mani wohl auch weiterhin tun. lin

Valerie Fritsch: „Zitronen“, Roman. 186 S., geb., € 25,50 (Suhrkamp)
Valerie Fritsch: „Zitronen“, Roman. 186 S., geb., € 25,50 (Suhrkamp)

Krankgefüttert von der Mutter

Vorsicht vor Mutterarmen: Als sich Augusts gewalttätiger Vater davonmacht, schleicht sich unsichtbare Gewalt ein. Die Mutter füttert August in eine köchelnde Krankheit hinein, um sich Sinn und Wert als Beschützerin zu geben. Der Roman „Zitronen“ der österreichischen Autorin und Bachmann-Preisträgerin Valerie Fritsch erkundet anhand des Münchhausen-Stellvertretersyndroms die Essenz von Gewalt und ihre Verstrickung mit Zärtlichkeit (wofür Fritsch auch mit Mördern und Überlebenden eines Mordversuchs gesprochen hat). Trotzdem ist er nicht durch und durch düster, dafür sorgt unter anderem die berückende Bildhaftigkeit des Schreibens: Als etwa August nach Vaters Verschwinden „rückwärts durch die Tür in den Sommer“ tritt und sich „von ihm verschlucken“ lässt, ist der Atem der Freiheit schnell wieder erstickt, atmet aber im Leser nach. „Zitronen“ ist auch ein Buch der Lieblingssätze. sim

Haruki Murakami: „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“, Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. 638 S., geb., € 35,95 (DuMont)
Haruki Murakami: „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“, Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. 638 S., geb., € 35,95 (DuMont)

Hier kämpfen Einhörner

Wer den neuen Murakami liest, dem wird vielleicht manches bekannt vorkommen: die Stadt hinter der Mauer. Die Einhörner. Der Mann, der Träume liest (mehr schlecht als recht übrigens). Fast dreißig Jahre nach „Hard-Boiled Wonderland“ hat der Autor diese Motive wieder aufgegriffen. Er sei damals, erklärt er in einem Nachwort, nicht zufrieden gewesen, aber die Geschichte habe ihn nicht mehr losgelassen, darum habe er sie neu bearbeitet. Er habe Jahre dafür gebraucht.

Und das merkt man ihr auch an. Sie ist wie ein Antidot zur Rastlosigkeit dieser Zeit. Murakami erzählt behutsamer, ja genügsamer als zuletzt, ohne große Volten, dafür mit Wiederholungen und leichten Rückungen. Es wird Schnee geschaufelt, Tee gekocht, das Holz im Ofen angezündet. Unser Held trinkt Kaffee und isst Heidelbeermuffins im immer gleichen Lokal, beobachtet eine Katze, die im Hinterhof lebt, und einen Buben im Yellow-Submarine-T-Shirt – und erzählt davon dem ehemaligen Bibliotheksleiter. Der ist zufällig ein Geist. Wirkliches und Unwirkliches mischen sich hier wieder fast beiläufig.

„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ spielt dabei in zwei Welten. In der einen lernt ein junger Mann ein Mädchen kennen, sie schreiben einander Briefe und treffen sich hin und wieder in einem Park; es ist eine sanfte, süße Liebesgeschichte. Bis das Mädchen plötzlich verschwindet. Zurück bleibt die Geschichte, die sie ihm erzählt hat, die beide miteinander weitergesponnen haben, von jenem geheimnisvollen Ort, vor dessen Toren zur Paarungszeit die Einhörner miteinander kämpfen. Murakami kehrt hier zu seinen zu seinen einfachen Helden zurück, die ein bisschen planlos durch die Welt tapsen und sich unversehens in diesem Murakami-Zauber wiederfinden. Und wir mit ihnen. best

Stefanie Sargnagel: „Iowa. Ein Ausflug nach Amerika“, Roman. 302 S., geb., € 23,50 (Rowohlt)
Stefanie Sargnagel: „Iowa. Ein Ausflug nach Amerika“, Roman. 302 S., geb., € 23,50 (Rowohlt)

Punks, zu Fuß in der Prärie

Ich bestelle noch einen Apfelkuchen. Jetzt ist schon alles egal.“ Niemand schreibt unprätentiösere Sätze als Stefanie Sargnagel. Und sie kokettiert nicht einmal damit. Schon gar nicht in Iowa, wo alles ist, wie man schon immer gewusst hat, dass es ist. Pampa, Pancakes, Pick-up-Trucks. Natürlich. Und Pelikane. Die lakonische Genauigkeit dieses Berichts aus einer vertrauten Fremde namens Mittlerer Westen entsteht auch dadurch, dass Sargnagel nicht nur ihrem eigenen Blick ver- und misstraut, sondern auch dem ihrer älteren Freundin, der Musikerin Christiane Rösinger. Die badisch-berlinerische Boomerin und die Wiener Millennial-Frau in ständiger Doppelconférence, beim Essen und Trinken, beim Wohnen und Einkaufen und selbstverständlich beim Gehen, denn: „Wir gehen die siebenhundert Meter einfach zu Fuß, weil wir Punks sind, abenteuerlustig und verwegen.“ So geht Reisen, so geht ein Reisebericht. tk

Iris Wolff: „Lichtungen“, Roman. 256 S., geb., € 25,50 (Klett-Cotta)
Iris Wolff: „Lichtungen“, Roman. 256 S., geb., € 25,50 (Klett-Cotta)

Die Fähre nach Siebenbürgen

Man sieht sie förmlich vor sich, die Fähre, auf der Kato und Lev ihre Reise durch die Städte Europas beenden, man riecht den alten Diesel, spürt den Fahrtwind in den Haaren und hört das Dröhnen der Maschinen. Etwas ist zu Ende, aber etwas beginnt auch. Die beiden sind angekommen. Wo genau in ihrer Beziehung zueinander, ist nicht sicher, es könnte eine Vertiefung sein, aber das ist nur eine Vermutung. Nur das geografische Ziel ist verbürgt, der Heimatort Levs im rumänischen Siebenbürgen, denn es hat ihn nach dem langen Unterwegssein irgendwie zurückgezogen, und zu seiner Überraschung kommt Kato mit ihm, ohne dass er sie gefragt hätte. Niemals hätte er gewagt, sie zu bedrängen. Iris Wolff erzählt ihren Roman „Lichtungen“ von der Gegenwart aus und schreibt sich Kapitel um Kapitel zurück in die Vergangenheit von zwei Menschen, die sich vielleicht in Zukunft lieben werden. lin

Michael Köhlmeier: „Das Philosophenschiff“, Roman. 222 S., geb., € 25,50 (Hanser)
Michael Köhlmeier: „Das Philosophenschiff“, Roman. 222 S., geb., € 25,50 (Hanser)

Der alte Lenin wird abserviert

Stalin wird uns rächen! So glaubt der russische Vater der berühmten Architektin Anouk Perleman-Jacob, bevor er sich mit seiner Ehefrau im deutschen Exil umbringt. Dass manche unter Lenin Vertriebene dann auf Stalin hofften, ist nicht der Fantasie Michael Köhlmeiers entsprungen. Wohl aber Anouk Perleman-Jacobs und ihrer Familie im Roman „Das Philosophenschiff“. Anouk, mittlerweile 100 Jahre alt, vertraut hier in Wien einem Autor, der viel mit Köhlmeier gemeinsam hat, Erinnerungen an. Der Roman erzählt anhand eines von der Revolution „aufgefressenen“ Intellektuellen- und Künstlermilieus von den (auch psychisch) verheerenden Folgen des Terrors, aber auch ­späterer linker Vergangenheitsblindheit. Köhlmeier spielt reizvoll mit der Teenager-Perspektive und mit prominenten historischen Figuren, allen voran Lenin, der am Ende ins Wasser geschupst wird. Das ist die Kraft der Literatur. sim

Barbara Rieger: „Eskalationsstufen“, Roman. 230 S., geb., € 24,95 (Kremayr & Scheriau)
Barbara Rieger: „Eskalationsstufen“, Roman. 230 S., geb., € 24,95 (Kremayr & Scheriau)

Was vor dem Femizid kommt

Auf dem Nullpunkt einer toxischen Beziehung beginnt Barbara Riegers Roman „Eskalationsstufen“. Die Protagonistin ist gefesselt: Ihr Peiniger wird sie vermutlich gleich umbringen. Er ist ein Wolf im Schafspelz, einer von der gefährlichsten Sorte. Schon im nächsten Kapitel lernen wir ihn als allseits beliebten Charmeur kennen, denn die Autorin springt nach der aufreibenden Passage zurück in der Zeit, zum ersten Treffen zwischen Julia und Joe. Er spricht sie bei der Eröffnung einer Ausstellung an, bei der Werke von ihr zu sehen sind, stellt sich als Mitglied der Auswahljury vor. Schon am nächsten Morgen schreibt er ihr und lädt sie zu seiner Vernissage ein. Dort stellt Julia fest, dass Joe verschwundene und ermordete Frauen malt. Sie ist verstört von den Bildern, aber gleichzeitig in ­Joes Bann gezogen.

Barbara Rieger beschreibt die Entwicklung dieser toxischen Beziehung in acht Kapiteln, die – wie sie am Ende des Romans anmerkt – dem Stufenmodell der Kriminologin Jane Monckton Smith folgen, „das acht Stufen identifiziert, die eine Beziehung durchläuft, bevor der Mann seine (Ex-)Partnerin tötet“. „Eskalationsstufen“ ist ein großer Wurf und von enormer gesellschaftlicher Relevanz. eu

C Pam Zhang: „Wo Milch und Honig fließen“, Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Regul. 272 S., geb., € 25,50 (S. Fischer)
C Pam Zhang: „Wo Milch und Honig fließen“, Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Eva Regul. 272 S., geb., € 25,50 (S. Fischer)

Das Mammut auf dem Teller

Seit drei Jahren „hatte ich keine Erd­beere und kein Blatt Salat mehr geschmeckt“. Die Welt in C Pam Zhangs Roman „Wo Milch und Honig fließen“ leidet unter dem Smog, der die Sonne verfinstert und das Wachstum auf der Welt erstickt. Ergebnis ist eine Nahrungsverknappung bis zur Hungersnot. Eine junge Frau heuert bei einer „Spitzenforschungsgemeinschaft“ als Privatköchin an. Diese befindet sich in Italien auf einem Berg. Ein Geschäftsmann hat sie ins Leben gerufen, er betreibt dort mit seiner Tochter Versuchslabore und gibt ausgefallene Galadiners für Investoren. Es ist die alte Geschichte: Einige Auserwählte wollen sich einen Platz in einer neuen Welt sichern, während die alte unbewohnbar geworden ist. Zhang beschreibt mit eindringlichem Horror eine dekadente Mini-Gesellschaft, deren einziges Ziel es ist, sich unbeschwert weiter dem Luxus hinzugeben. Woher kennt man das nur? lin

Suzie Miller: „Prima Facie“, Roman. Aus dem Englischen von Katharina Martl. 352 S., geb., € 26,50
Suzie Miller: „Prima Facie“, Roman. Aus dem Englischen von Katharina Martl. 352 S., geb., € 26,50

Ein Gospel für #Me-Too

Die brillante junge Strafverteidigerin Tessa Ensler hat einen weiten Weg aus der Sozialwohnung in Liverpool hinter sich. Sie macht sich gerade in der Londoner Gerichtswelt einen Namen, ist für einen wichtigen Anwaltspreis nominiert, wird von großen Kanzleien umworben. Tessa übernimmt viele Vertretungen von Männern, die wegen Sexualdelikten angeklagt sind. In Gewissenskonflikte gerät sie dabei nicht. Bis sie selbst Opfer eines sexuellen Übergriffs wird und sich entschließt, in ihrem eigenen Vergewaltigungsprozess in den Zeugenstand zu treten. Das tut Tessa, weil sie ihren Glauben an das Recht bestätigt sehen und weil sie nicht in der Unsichtbarkeit verschwinden will, wie so viele andere betroffene Frauen, die schweigen. Die gebürtige Australierin Suzie Miller hat ihr vielfach preisgekröntes Erfolgsstück „Prima Facie“ dankenswerterweise zu einem Roman umgearbeitet, der lange nachhallt. do

Daniel Mason: „Oben in den Wäldern“, Roman. Aus dem amerikanischen Englisch. 430 S., geb., € 27,50 (C. H. Beck)
Daniel Mason: „Oben in den Wäldern“, Roman. Aus dem amerikanischen Englisch. 430 S., geb., € 27,50 (C. H. Beck)

Geister gegen die Sklaverei

Statt eines menschlichen Protagonisten spielt in Daniel Masons mehrere Jahrhunderte umspannenden Roman ein Haus die Hauptrolle. Es steht auf einem abgelegenen Grundstück in den Wäldern von Massachusetts. Zunächst ist es im Besitz einer Frau, die sich mit marodierenden Soldaten anlegt, um das benachbarte Dorf, in dem Native Americans leben, zu verteidigen. Ein Apfelbaum bewegt einen Aussteiger, das Haus zu kaufen und leidenschaftlicher Pomologe zu werden. Dessen Zwillingstöchter entwickeln eine gruselige Co-Abhängigkeit. Nebenbei nimmt die Geschichte ihren Lauf, vom Unabhängigkeitskrieg über die Sklaverei, den Sezessionskrieg und bis in die Gegenwart. Neue Menschen ziehen ein, doch niemand zieht aus. Mit den Geistern müssen die Lebenden schließlich klarkommen. Und so übel sind sie nicht: Einmal locken sie gar einen Sklavenjäger in die Falle. Ein brillanter Genremix. eu

Elizabeth Strout: „Am Meer“, Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Roth. 284 S., geb., € 26,50 (Luchterhand)
Elizabeth Strout: „Am Meer“, Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Roth. 284 S., geb., € 26,50 (Luchterhand)

Was Corona uns allen antat

Plötzlich sitzt Lucy in Maine, in einem Häuschen am Meer. Ihr Ex-Mann hat sie überredet, mit ihm aus New York zu fliehen. Das wird übel, sagte er, du bist gefährdet, sagte er. Und sie glaubte ihm. Und wirklich, bald ist die Welt im Lockdown, ein Freund stirbt, und es gibt kein Begräbnis; eine Kollegin liegt krank im Spital, der Schwiegersohn ist Asthmatiker, und die Angst ist groß, er könnte sich anstecken. Als Lucy und William ihre Töchter treffen, verzichten sie auf eine Umarmung. So viel hat Corona uns angetan, wir haben es fast vergessen. Aber manchmal ist es heilsam, sich zu erinnern, vor allem wenn Elizabeth Strout, eine so sanfte Autorin, uns an der Hand nimmt, von Liebe und Familie erzählt und auch von den ersten Brüchen, die sich auftun: Eine Bekannte will sich nicht impfen lassen und muss deshalb ihre karitative Arbeit aufgeben. „Das tut mir leid“, sagt Lucy, und sie hören weiter den Vögeln zu. best

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