Culture Clash

May 1940 revisited

Churchill und Halifax – und warum Papst Franziskus’ Weiße-Flagge-Bemerkung zur Ukraine ihr Gutes hat, selbst wenn die Geschichte ihm einst nicht recht geben sollte.

Hitler beherrscht schon Österreich, die Tschechoslowakei, Westpolen, Dänemark, Norwegen, die Niederlande und Belgien. Frankreich steht vor der Niederlage, Italien vor dem Kriegseintritt. Die britischen Streitkräfte sehen bei Dünkirchen ihrer Vernichtung entgegen. Amerika schaut weg. Das Londoner Kriegskabinett tagt am 27. Mai 1940: Sogar die Stabschefs halten Deutschland für unbesiegbar – muss man nicht Friedensverhandlungen anbahnen?

Anthony McCarten rekonstruiert in seinem gut recherchierten Buch „Darkest Hour“ von 2017 den Höhepunkt der – nicht protokollierten – Sitzung: Churchill lehnt Verhandlungen ab, weil sie „uns in tödliche Gefahr“ bringen könnten (er befürchtet Bedingungen, die England zu einem Vasallenstaat machen). Darauf Außenminister Halifax, der Wortführer der Appeaser, ein frommer Anglokatholik: „Die tödliche Gefahr ist vielmehr diese romantische Fantasie des Kämpfens bis zum Ende! Was wäre denn das für ein Ende, wenn nicht die Zerstörung von allem? Es ist nicht heroisch, in einem Kampf unterzugehen, der vermeidbar wäre. Und nicht unrühmlich zu versuchen, einen Krieg abzukürzen, den wir ganz klar verlieren.“ Churchill: „Wie viele Diktatoren müssen wir noch umwerben und besänftigen, bis wir lernen, dass man mit einem Tiger nicht vernünftig reden kann, wenn man den Kopf in seinem Maul hat!“ Wie immer sich das genau abgespielt hat: Laut dem Historiker Antony Beevor markiert diese Kabinettsitzung „vielleicht den kritischsten Moment des Krieges, in dem Nazi-Deutschland gewinnen hätte können“.

Papst Franziskus hat nun in Richtung Ukraine gesagt: „Wenn man sieht, dass man besiegt wird, dass die Dinge nicht gut laufen, muss man den Mut haben zu verhandeln. Du schämst dich, aber wie viele Tote wird es am Ende geben?“ Er hat heftige Reaktionen geerntet. Und es scheint, als bilden sich die Lager entlang derselben Linien wie damals: Kann man mit Hitler/Putin vernünftig verhandeln? Ist Verhandlungsbereitschaft fatale Schwäche? Geht es nur um Gebietsansprüche – oder um die Zukunft der Menschenwürde in Europa? Gibt es Werte, für die man bis zum Ende kämpfen muss ?

Auch wenn ich eher zu Churchill neige: Es ist gut, dass es in dieser Debatte auch Halifaxe gibt. Nicht nur, weil ein Krieg auch so ausgehen kann, dass man dann gern auf den gehört hätte, den man zuvor als Defätisten niedergeschrien hat. Sondern auch weil die Zukunft der Menschenwürde davon abhängt, dass einer immer wieder nötigt nachzudenken, ob denn guten Gewissens wirklich noch mehr Tod und Verstümmelung befohlen werden kann.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

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