Pizzicato

Der Schaum der Leitkultur

Leitkultur gibt‘s doch überall. Manchmal ist es halt etwas verwirrend.
Leitkultur gibt‘s doch überall. Manchmal ist es halt etwas verwirrend.Clemens Fabry
  • Drucken
  • Kommentieren

Seltsam, dass es so schwierig sein kann, eine Leitkultur zu finden, oder zumindest Wörter dafür. Dabei gibt‘s das doch praktisch überall. Wer mit offenen Augen und ohne Ideologiebrille durchs Leben geht, sieht das auch.

Jetzt ist man bei uns also auf der Suche nach der „Leitkultur“. Die Regierung, primär die ÖVP, lässt Experten darüber brüten, wie die aussehen könnte. Andere finden, so etwas gebe es irgendwie eh nicht (oder dürfe es sogar nicht), und falls doch, so sei schon allein die Suche danach diskriminierend.

Seltsam, wie sich für etwas, von dem man doch eigentlich intuitiv weiß oder wissen könnte, wie es aussieht, so schwer Wörter finden lassen. Das trauen sich viele sogar nicht einmal. Dabei geht’s bloß um so etwas wie die Hausordnung, soziale Kodizes, ergänzt um die historisch begründet häufigste Lebensweise, die lokale Architektur des Seins. Und es geht weniger um Details wie Ostern, Heurige, Trachten, Alpinsport oder Vorarlberger Funkenfeuer, sondern um die generelle Staats-, Rechts- und die Alltagskultur von Leben, Denken, Ordnen, Forschen, Bauen, Genießen, Sich-Freuen, Miteinanderumgehen, Einanderaushalten und wie man die Dinge halt anpackt und wie eher nicht. Das muss man alles gar nicht so akademisch verzwurbeln und zerdenken, das lenkt doch vom Sehen ab.

Sagen wir halt „Gleitkultur“

Es ist zum Teil auch irgendwie wie die Straßenverkehrsordnung auf dem Lebensweg samt Bauweise, Struktur und Ausgestaltung der Verkehrsflächen und deren Umlandes. Meine Güte, man könnte statt Leit- auch Gleitkultur sagen — also die Art und Weise und Ordnung, wie die Dinge des Lebens auf dem Lebensweg, auf unseren Lebenswegen, dahingleiten. Vieles stellt sich historisch gesehen von selbst ein und wird oft auch zumindest durch eine Mehrheit getragen, manches muss man erst bauen. Am besten sollte es möglichst unfallfrei, reibungsarm, angenehm und akzeptabel vor sich gehen, was leider nicht immer der Fall ist.

Wie sie auch aussieht: Leitkultur gibt’s doch fast überall. Wer die Welt mit offenen Sinnen bereist, kann sie sehen, hören, lesen, riechen, spüren, ahnen, ob in Frankreich, Finnland, Serbien, Ägypten, Marokko, Ghana, Mexiko, Thailand, China, Fidschi oder der Türkei, und wenn’s nur regional ist, eine fraktionsübergreifende Gemeinsamkeit oder das Eis auf dem Wasser. Sie muss auch nicht zwingend homogen sein, viele sind sogar ziemlich vielschichtig, die Bestandteile der Kulturrezeptur sollten einander halt aushalten.

Kleine und mittelgroße Städte eignen sich für die Suche übrigens besser als Metropolen. Man gehe einen Tag durch Assuan oder Biserta, durch Nîmes oder Eastbourne, durch Heraklion oder Örebro, durch Punta Arenas oder Latacunga, durch Hobart oder Sigatoka, durch Feldkirch, Mödling oder Graz oder irgendwo sonst auf der Welt zwischen Feuerland, dem Elsass, Anatolien und Hokkaido, und man bekommt eine Ahnung, was gemeint ist. Der Unterschied zwischen Salzburg und Salisbury, dem Burgenland und Belutschistan, Österreich und Osttimor ist unglaublich evident, oder? Wenn nicht, so kann das an einer Blindheit liegen, die mehr ein Nichtsehenwollen denn ein Nichtsehenkönnen ist. Manchmal korreliert die mit einer Geringschätzung des Eigenen, Hiesigen, Autochthonen, was mitunter seinen guten Grund haben kann, aber nicht zur starren Geistehaltung werden sollte.

Wie man die jeweilige Kultur bewertet, ob man sie mag, ist eine ganz andere Frage. Sie für Österreich zu definieren, mag zwar wie der Versuch sein, Schaum an die Wand zu nageln. Aber in der Hand halten, begreifen also, kann man ihn schon. Vielleicht fehlt manchen bloß das Gespür dafür. (wg)

E-Mails an: wolfgang.greber@diepresse.com

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.