Türkei

„Tektonische Verschiebung“: Kommunalwahl endet für Erdoğan in einem Debakel

Präsident Recep Tayyip Erdoğan gemeinsam mit seiner Frau Emine bei der Stimmabgabe.
Präsident Recep Tayyip Erdoğan gemeinsam mit seiner Frau Emine bei der Stimmabgabe.APA / AFP / Murat Kula
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Erstmals seit über 20 Jahren ist die Opposition stärker als die regierende AKP. Die großen und bedeutenden Städte konnte Erdoğan nicht zurückerobern. Selbst im sonst so verlässlichen Anatolien muss die AKP schmerzliche Verluste einstecken.

Die Kommunalwahl in der Türkei am Sonntag ist für Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu einem Debakel geworden. Die sozialdemokratisch-kemalistische Oppositionspartei CHP verteidigte ihre Macht in Istanbul und der Hauptstadt Ankara – und schlug Erdoğans Partei AKP in weiteren Großstädten in Anatolien. Landesweit wurde die CHP zum ersten Mal seit über 20 Jahren zur stärksten politischen Kraft in der Türkei. Erdoğan hatte besonders das Rennen in Istanbul zu einer Abstimmung über sich selbst gemacht. Mit der AKP-Niederlage am Bosporus wird der Istanbuler CHP-Bürgermeister Ekrem Imamoğlu nun zum Herausforderer des Präsidenten.

Experten werten die Wahl als Wegscheide für die Türkei. Soli Özel von der Kadir-Has-Universität sagt, das Ergebnis sei eine „tektonische Verschiebung, wie man sie sich kaum vorstellen konnte“. Für die AKP und Erdoğan sei der Wahltag eine „vernichtende Niederlage“, sagt Özel zur „Presse“.

Der Herausforderer heißt Imamoğlu

In Istanbul siegte Imamoğlu laut vorläufigen Zahlen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu mit 51 Prozent der Stimmen klar gegen den AKP-Bürgermeisterkandidaten Murat Kurum, der auf 40 Prozent kam. Imamoğlu war 2019 ins Amt gekommen; damals ließ Erdoğan die Wahl wiederholen, um Imamoğlu aus dem Rathaus fernzuhalten, was ihm jedoch nicht gelang.

Der Istanbuler Bürgermeister, Ekrem İmamoğlu, will auch der nächste Präsident werden.
Der Istanbuler Bürgermeister, Ekrem İmamoğlu, will auch der nächste Präsident werden.APA / AFP / Yasin Akgul

Der 52-jährige Imamoğlu, der aus seinen Ambitionen auf das Präsidentenamt keinen Hehl macht, schuf mit seinem erneuten Erfolg am Sonntag die Grundlage, um den 70-jährige Erdoğan bei der nächsten Präsidentenwahl in vier Jahren herauszufordern: Istanbul ist mit Abstand die reichste und bevölkerungsstärkste Stadt der Türkei – und stellt elf Millionen der 61 Millionen Wähler des Landes. Özel sagt, die türkische Opposition habe 21 Jahre lang das Problem gehabt, keinen glaubwürdigen Herausforderer gegen Erdoğan gefunden zu haben. „Jetzt hat sie einen. Imamoğlu ist der Gegenkandidat und vielleicht der nächste Präsident dieses Landes.“

Noch deutlicher als in Istanbul fiel der Sieg der CHP in Ankara aus: Dort verteidigte Amtsinhaber Mansur Yavaș sein Amt mit 60 Prozent der Stimmen gegen den AKP-Bewerber Turgut Altinok, der unter 35 Prozent blieb. Die CHP löste die AKP zudem in der Industriestadt Bursa als Regierungspartei ab, behauptete sich in ihrer Hochburg Izmir und gewann die Wahlen in sechs weiteren Provinzen im westlichen Anatolien. Insgesamt kam die CHP nach vorläufigen Anadolu-Zahlen landesweit auf 37,6 Prozent und lag damit einen Prozentpunkt vor der AKP.

Konkurrenz aus dem eigenen Lager

Im zentralanatolischen Yozgat und im südostanatolischen Șanliurfa verlor die AKP gegen die islamistische Neue Wohlfahrtspartei (YRP) – auch das war ein Novum: Nie zuvor seit ihrer Gründung im Jahr 2001 ist die AKP bisher von der Konkurrenz aus dem islamisch-konservativen Lager geschlagen worden. Die YRP ist die wiedererwachte Partei der islamistischen Milli-Görüș-Bewegung und ihres Vordenkers Necmettin Erbakan. Geleitet wird die YRP von Erbakans Sohn, Fatih.

Imamoğlu sagte in einer ersten Reaktion, die Wahl habe „die Ära der Vormundschaft eines Einzelnen“ beendet. Nun gehe die Türkei der Demokratie und dem Frieden entgegen. CHP-Chef Özgür Özel hingegen sprach auch einem historischen Sieg seiner Partei. Die Wähler hätten „die Tür zu einer neuen Politik geöffnet“. Erdoğan äußerte sich zunächst nicht und wandte sich demonstrativ der Außenpolitik zu: Er telefonierte mit dem iranischem Präsidenten Ebrahim Raisi und sprach mit dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte über dessen Bewerbung um das Amt des Nato-Generalsekretärs. Bemerkenswert: Die Lichter vor der AKP-Zentrale in Ankara blieben ausgeschaltet. Normalerweise finden hier die großen Wahlpartys statt.

Erdoğan räumte seine Niederlage dann auch ein: „Wir haben die erhofften Ergebnisse nicht erreichen können“, sagte der Präsident in Ankara. Die Kommunalwahl sei aber kein Ende, sondern ein Wendepunkt, denn die Regierung werde aus ihren Fehlern lernen. 

Politik-Experte Özel sagt, ein Grund für die Schlappe der AKP sei, dass viele ihrer Wähler am Sonntag zu Hause geblieben sind: „Wie fühlt man sich als Erdbebenopfer, dem ein neues Haus binnen eines Jahres versprochen wurde, oder als Rentner, der mit einer kleinen Rente auskommen muss? Und die Regierung schwelgt im Luxus – so etwas regt die Leute auf.“

„Anfang vom Ende der Ära Erdoğan“

Murat Somer von der Özyegin-Universität in Istanbul sagt, die Opposition verdanke ihren Erfolg den Lehren aus der Niederlage gegen Erdoğan bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai vergangenen Jahres. Imamoğlu habe damals eine Reformbewegung innerhalb der Opposition angestoßen, wofür er und die CHP jetzt belohnt worden seien.

„Das ist vielleicht der Anfang vom Ende der Ära Erdoğan“, sagt Somer zur „Presse“. Erdoğan habe sich in den vergangenen Jahren mit so vielen Bündnispartnern überworfen, dass er jetzt „in der Ecke“ stehe. Wenn AKP-Abgeordnete nun erwarten müssten, bei der nächsten Wahl 2028 ihre Sitze zu verlieren, könne es schon vor diesem Wahldatum neue Bündnisse und Veränderungen geben.

Mansur Yavaș von der oppositionellen CHP bleibt den ersten Ergebnissen zufolge auch weiterhin Bürgermeister der Hauptstadt Ankara.
Mansur Yavaș von der oppositionellen CHP bleibt den ersten Ergebnissen zufolge auch weiterhin Bürgermeister der Hauptstadt Ankara.APA / AFP / Adem Altan

Auch Politik-Dozent Özel sieht schwere Zeiten auf Erdoğan zukommen. Der Präsident habe den schwersten Rückschlag seit der Niederlage der AKP bei den Kommunalwahlen von 2009 erlebt. Außerdem müsse sich der Präsident nach den Wahlen um die Wirtschaft kümmern, was schmerzhafte Entscheidungen für AKP-Wähler bedeute. „Erdoğan ist ein Kämpfer – aber er ist ein müder Kämpfer.“

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