Geistesgeschichte

Sind Kannibalen einfach nur kulturell offen?

Als Potlatsch wurde ihr verschwenderisches Gabenfest im Westen berühmt und viel gedeutet: Hochzeitsgesellschaft der 
Kwakiutl in einem traditionellen Kanu, Bild von 1915.
Als Potlatsch wurde ihr verschwenderisches Gabenfest im Westen berühmt und viel gedeutet: Hochzeitsgesellschaft der Kwakiutl in einem traditionellen Kanu, Bild von 1915.Getty
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Inspirierten Irokesen die US-Verfassung? Ist die Mother-Earth-Philosophie gar nicht indigen? Und was hat das alles mit Kafka, dem „Great Gatsby“ und kultureller Aneignung zu tun? Das Buch „Neun Stämme“ erzählt von der Wirkung indigener Kulturen auf die Moderne.

Sei nicht der Kannibalismus viel harmloser als die abendländische Gier, sich alles einzuverleiben? Ganz zu schweigen vom gegenseitigen Abschlachten der Katholiken und Protestanten in den Gräueln der Glaubenskriege . . . So verteidigte der französische Philosoph Michel Montaigne die Tupunumbá in Brasilien, deren Kannibalismus damals in Europa (und so auch ihm) bekannt wurde. Er sah dort nichts „Barbarisches“ – so bezeichne man, meinte er, ohnehin nur das, was den eigenen Bräuchen widerspreche . . .

Hier bereits, im 16. Jahrhundert, wurde der so modern anmutende europäische Kulturrelativismus geboren. Ein bei den Bororos missionierender Franziskanermönch, der über diese Zeit einen Bericht schrieb, zeichnete das Bild von „guten Wilden“ (zwei Jahrhunderte vor Rousseau!) im Einklang mit der Natur. Ihr Kannibalismus, so wiederum der Calvinist Jean de Léry, sei nur Rache, um damit die Seelen der Ahnen zu befrieden. Léry teilt auch gleich gegen die Katholiken aus: Sei ihr Glaube, dass sich Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandeln, nicht auch Kannibalismus? Ja, noch mehr: Er verweist sogar auf ein Phänomen, das heute für Staunen sorgen muss: Kannibalismus im Europa seiner Zeit, im Zuge der Glaubenskriege und der Hungersnöte.

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