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Robert Menasse über Perry Rhodan und eine Welt ohne Grenzen

Bei Perry Rhodan ging es nur vordergründig um eine Reise zu den Sternen. Es ging um ein Friedensprojekt.
Bei Perry Rhodan ging es nur vordergründig um eine Reise zu den Sternen. Es ging um ein Friedensprojekt. Johnny Bruck/Heinrich Bauer Verlag
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Es wird immer wieder kritisiert, die EU sei nur ein Elitenprojekt. Aber in den Sechzigerjahren war die kollektive Fantasie schon weiter: über ein Europa, das Schritt für Schritt eine nachnationale Politik umsetzte – und über Perry Rhodan.

Ist die Europäische Union ein schwarzes Loch? Ein Gebiet, in dem die Materie in sich selbst zusammengefallen ist, wodurch sich eine enorme Menge Masse auf einem unglaublich kleinen Raum konzentriert? Dieser Raum wird „Brüssel“ genannt. Siebenundzwanzig Staaten, fast vierhundertfünfzig Millionen Menschen auf einer Fläche von über vier Millionen Quadratkilometern: zusammengefallen und verdichtet auf „Brüssel“.

Die EU scheint nur noch als diese Chiffre zu existieren: „Brüssel“, das die Souveränität der Nationalstaaten, „nationale Interessen“ und vor allem die Demokratie, die nur als nationale vorstellbar sei, verschlucken will, im Weltraum, der Europa heißt. So erscheint heute der vorherrschende politische Europadiskurs. Aber auch in der literarischen oder intellektuellen Auseinandersetzung existiert die EU im Sinne ihrer Idee im deutschen Sprachraum in einem schwarzen Bewusstseinsloch, schlicht auch nur als „Brüssel“.

Es gibt von zeitgenössischen europäischen Autoren Bücher über Globalisierung und (Post-)Kolonialismus, kenntnisreiche und analytische Literatur über Allerwelt, aber auf vergleichbarem Niveau so gut wie nichts über Europa, über die EU, über den großen Transformationsprozess des eigenen Kontinents, die Grundlage und die Rahmenbedingungen unseres Lebens, Handelns, Denkens, Hoffens und Scheiterns. Selbst ein von mir bewunderter Großintellektueller wie Hans Magnus Enzensberger, als er von seiner luziden Zeitgenossenschaft der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts im 21. angekommen war, konnte zu EU nur „Brüssel“ assoziieren, das er „sanftes Monster“ nannte – eine Demonstration seines kritischen Geistes, der keine große Lust zu haben schien, zu verstehen, was er kritisierte.

EU-Profiteure, die keine Ahnung von der EU haben

Er beglückte damit viele Menschen, die genau das brauchten: in ihrem Selbstgefühl als kritische Geister bestätigt zu werden, begeistert davon, dass dabei keines ihrer Vorurteile infrage gestellt wurde. Globalisierungsgewinner, die die Globalisierung nicht verstehen, EU-Profiteure, die keine Ahnung von der EU haben, Opfer nationalistischer Verblendungen, die sich ihre Misere nur so erklären können, dass die Nationalisten, die sie gewählt haben, noch nicht nationalistisch genug waren, und Populisten, die nicht einmal populär sind: Sie alle, links und rechts, verbindet das Gefühl bzw. die Selbstdarstellung, „kritische“ Bür­ger zu sein, und die Wähler sind in ihren Ressentiments und Aggressionen nur durch ihre Parteipräferenzen gespalten.

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