Gastkommentar

Die Argumente für den Staat Israel bleiben gültig

Peter Kufner
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Das Ideal, allen verfolgten Juden einen Zufluchtsort zu schaffen, bleibt die stärkste Rechtfertigung für die Existenz Israels.

Der 2010 viel zu früh verstorbene britische Historiker Tony Judt argumentierte 2009, dass Israels Identität als einzigartiger jüdischer Staat „schlecht für Israel“ und „schlecht für Juden anderswo sei, die mit seinen Handlungen gleichgesetzt werden“. Obwohl seine Äußerungen damals eine Kontroverse ausgelöst haben, scheint die weltweite Reaktion auf den andauernden Krieg zwischen der Hamas und Israel im Gazastreifen ihm recht zu geben, da sich Juden auf der ganzen Welt für Israels angeblichen „Völkermord“ am palästinensischen Volk verantwortlich gemacht sehen.

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In den vergangenen sechs Monaten kam es nach den Berichten über die Gräueltaten im Gazastreifen vermehrt zu antisemitischen Vorfällen unter anderem in Städten wie London, New York und Wien. Synagogen wurden mit Hassparolen beschmiert, jüdische Friedhöfe wurden geschändet, und als Juden identifizierte Personen wurden in der Öffentlichkeit belästigt.

Es ist richtig, dass sich viele Juden aktiv an Antikriegsdemonstrationen beteiligen, die ein freies Palästina „vom Fluss bis zum Meer“ fordern. Und es ist falsch, jegliche Kritik an der rechtsextremen Regierung des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu mit Antisemitismus gleichzusetzen.

Berufung auf den Holocaust

Richtig ist aber auch, dass manche das Vorgehen Israels in Gaza mit einem Eifer als Völkermord bezeichnen, der bei internationalen Reaktionen auf Massengewalt in Ländern wie beispielsweise Syrien, dem Sudan oder auch der Ukraine nicht zu beobachten ist. Diese unverhältnismäßige Aufmerksamkeit deutet darauf hin, dass die Kritik am israelischen Vorgehen eine Erleichterung für diejenigen sein könnte, die es leid sind, sich wegen des Holocaust schuldig zu fühlen.

Die israelischen Regierungen tragen einen Teil der Verantwortung für diese Ressentiments – nicht nur wegen der schrecklichen Behandlung der Palästinenser im Lauf der Jahre, sondern auch, weil sich israelische Beamte häufig auf den Holocaust berufen, um die grausame Politik des Landes zu rechtfertigen.

Seit dem Prozess gegen den NS-Verbrecher Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem beansprucht Israel, für alle Opfer des Holocaust zu sprechen. Hätte es Israel in den 1930er-Jahren gegeben, so lautet die Argumentation, wären sechs Millionen Juden vor dem Inferno der Nazis gerettet worden.

Wohl aus diesem Grund wurde der israelische Präsident Isaac Herzog zur Eröffnung des neuen Holocaust-Museums in Amsterdam am 10. März eingeladen.

Als die Gewalt in Gaza explodierte und Herzog behauptete, eine „ganze Nation“ sei für das Massaker der Hamas an israelischen Bürgern am 7. Oktober verantwortlich und es gebe keine unschuldigen Zivilisten in Gaza, war es bereits zu spät, um die Einladung zurückzuziehen. Herzogs Erscheinen löste breite Proteste aus, bei denen Demonstranten pro-palästinensische Parolen riefen und Juden in die Amsterdamer Synagoge strömten, um der niederländischen jüdischen Gemeinde zu gedenken, die von den Nazis fast vollständig ausgelöscht worden war.

Judts Antwort auf die Gleichsetzung von Juden und Israel bestand darin, die jüdische Identität vom jüdischen Staat zu trennen. „So könnten wir hoffen“, schrieb er, „eine natürliche Unterscheidung zu treffen zwischen Menschen, die zufällig Juden sind, aber Bürger anderer Länder, und Menschen, die israelische Staatsbürger und zufällig Juden sind.“

Das Rückkehrgesetz

Judt war dabei nicht der Erste, der diesen Vorschlag machte. Der aus Ungarn stammende Schriftsteller und Journalist Arthur Koestler, wie auch Judt ein ehemaliger Zionist, argumentierte, dass Juden, die als Juden leben wollten, nach Israel ziehen sollten, während diejenigen, die das nicht wollten, aufhören sollten, sich als Juden zu identifi­zieren.

Dies mag wie eine einfache Lösung klingen, ist es aber nicht, denn die Selbstwahrnehmung der Juden ändert nicht notwendigerweise die Wahrnehmung der Nichtjuden. Im Holocaust wurden neben orthodoxen Juden aus polnischen Schtetl auch säkulare Juden vergast, die sich zunächst als Deutsche ver­standen.

Der jüdische Charakter Israels kommt am deutlichsten im Rückkehrgesetz von 1950 zum Ausdruck, das jedem Juden das Recht einräumt, sich in Israel niederzulassen. Ursprünglich sollte dieses Gesetz Israel als Zufluchtsort vor antisemitischer Unterdrückung und Verfolgung festlegen, es wurde jedoch aufgrund seiner vagen Definition jüdischer Identität kritisiert. Heute kann jeder, der mindestens einen jüdischen Großelternteil hat oder zum Judentum konvertiert ist, die israelische Staatsbürgerschaft erhalten.

Dies ist eine offensichtliche Ungerechtigkeit gegenüber den Palästinensern, deren Familien im Krieg von 1948 von jüdischen Truppen aus ihrem angestammten Land vertrieben wurden. Warum soll ein Franzose oder Russe mit einem jüdischen Großelternteil nach Israel einwandern dürfen, die Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge aber nicht?

Kein sicherer Hafen mehr

Viele Juden könnten sagen, dass sie sich in keiner Weise mit Israel verbunden fühlen und sich gegen jede Andeutung wehren, sie müssten sich diesem Land gegenüber loyal verhalten oder seine Politik verteidigen. In der Tat gibt es für Juden keinen Grund, die Politik Israels zu verteidigen, und viele tun dies auch nicht.

Die Tatsache, dass einige Juden in Europa und den Vereinigten Staaten das Gefühl haben, dass die Verfolgung der Vergangenheit angehört, bedeutet jedoch nicht, dass Juden in weniger privilegierten Regionen nicht mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Es stimmt auch, dass Israel heute nicht mehr als sicherer Hafen erscheint, was allerdings zum Teil auf die Machenschaften der eigenen Regierung zurückzuführen ist. Aber das ändert nichts an dem Prinzip.

Dennoch könnte man argumentieren, dass Israel das Rückkehrgesetz überdenken sollte, da es eine überholte Politik darstellt, die einen dauerhaften Frieden mit den Palästinensern nahezu unmöglich macht. Die Abschaffung des Rückkehrgesetzes wäre zwar den Palästinensern gegenüber gerechter, würde aber auch das Gründungsprinzip Israels als Zufluchtsort für Juden in Not infrage stellen.

Aufgezwungene Identität

Die Rolle Israels als möglichen Zufluchtsort für verfolgte Juden zu ignorieren zeugt von einem Mangel an Solidarität und Vorstellungskraft. Wenn man nicht glaubt, dass die Juden ein Recht auf ihren Staat haben, weil Gott dem jüdischen Volk das Heilige Land versprochen hat, bleibt das Ideal, allen verfolgten Juden eine Heimat zu schaffen, die stärkste Rechtfertigung für die Existenz Israels.

Solang dies der Fall ist, wird es für Juden schwer sein, sich vollständig von Israel zu distanzieren. Und selbst wenn Juden in der Diaspora jede Verbindung zu Israel kappten, werden viele Nichtjuden darauf beharren. Schließlich wird uns die Identität häufig von anderen aufgezwungen – eine Realität, mit der Juden nur allzu vertraut sind.

Deutsch von Andreas Hubig
Copyright: Project Syndicate, 2024

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor

Ian Buruma (*1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. Er ist Autor, zuletzt erschien sein Buch „Spinoza: Freedom’s Messiah“ (Yale University Press, 2024).

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