Replik auf Hans Winkler

Das Vielerlei der Leitkultur

Seit über zwei Jahrzehnten ist es nicht gelungen, greifbar zu machen, was mit Leitkultur eigentlich gemeint ist.

Nur 24 Jahre nachdem in Deutschland erstmals eine breitere Debatte über die Leitkultur angestoßen worden ist, entdeckt die ÖVP den Begriff für sich. Hans Winkler, Mitglied des Leitkultur-Expertenrats, hat für die „Presse“ in seiner Kolumne „Déjà vu“ (2. 4.) eine Verteidigung des „Reizworts“ verfasst: „Einwanderungsgesellschaften müssen sich darüber klar werden, was sie verbindet.“ Die gemeinsame Wertebasis Leitkultur zu nennen ist „angemessen und berechtigt“. Winklers Plädoyer kann nur zustimmen, wer den jahrzehntewährenden deutschen Leitkulturdiskurs komplett ignoriert. Bereits 2000, als Friedrich Merz den Begriff lancierte, hagelte es Kritik. Paul Spiegel, damals Präsident des Zentralrats der Juden, mahnte: „Meine Damen und Herren Politiker, überlegen Sie, was Sie sagen, und hören Sie auf, verbal zu zündeln!“

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Das Muster der wiederkehrenden Leitkulturdebatten ist seitdem unverändert: Ein Politiker greift den Begriff auf, es folgt eine kurze Debatte, danach verschwindet die Leitkultur wieder in der Versenkung. Wirklich überzeugt scheint in Deutschland heute nur die AfD den Begriff zu vertreten: Im Grundsatzprogramm findet sich ein eigenes Unterkapitel, Björn Höcke verfasste 2018 ein 74-seitiges Werbeprospekt für „Leitkultur, Identität, Patriotismus“. Erstere solle als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen werden.

Rechte Schlagseite

Klar ist: Leitkultur hat sich als reaktionärer Kampfbegriff etabliert und wird allgemein auch so verstanden. Wer Leitkultur heute in den Mittelpunkt einer Kampagne setzt, antizipiert die Aufregung, die folgen wird. Eine produktive, lösungsorientierte Debatte ist damit nicht zu haben.

Dass sich der Begriff weiterhin nicht durchsetzen wird, liegt aber nicht allein an dessen hart rechter Schlagseite: In über zwei Jahrzehnten ist es nie gelungen, die Leitkultur greifbar zu machen. Beliebte Übersetzungen wie Grundkonsens, Spielregeln oder Hausordnung sind viel zu vage – zumal es dezidiert um mehr als Verfassungstreue gehen soll, wie auch Winkler hervorhebt.

Das gleiche Drehbuch

Leitkulturdefinitionen erschöpfen sich in der willkürlichen Aufzählung von gesellschaftlichen Idealen, politischen Errungenschaften und Benimmregeln: Demokratie, Menschenrechte, Re­ligionsfreiheit, Gleichberechtigung, Tradition, Lebensweise, zur Begrüßung die Hand geben, das christlich-jüdische Erbe etc.

Wie aus diesem Durcheinander etwas abgeleitet werden soll, an das sich alle anpassen müssen, ist bis heute rätselhaft. Den grundsätzlichen Widerspruch, dass es in einer offenen Gesellschaft keine Über- und Unterordnung verschiedener Haltungen und Lebensweisen geben kann, wird auch Susanne Raabs Expertenrunde nicht lösen.

Letzten Endes ist es irrelevant, wie praktikabel eine Definition ausfallen mag. Denn jenen, die die Leitkultur forcieren, geht es nicht darum, Einigkeit zu stiften. Das zur Schau getragene Pathos, die verbindenden Worte vom „Fundament unseres Zusammenlebens“ oder „gelebten Grundkonsens“ sind unehrlich. Beispielhaft das Vorgehen von Deutschlands Ex-Innenminister Thomas de Maizière, der 2017 die letzte größere Debatte zum Thema anstieß: Leitkultur definierte er salbungsvoll als das, „was uns im Innersten zusammenhält“; seinen Zehn-Punkte-Katalog betitelte er mit „Wir sind nicht Burka“. In Österreich spielen wir 2024 nach dem gleichen Drehbuch. Ministerin Raab betont, sie wolle „sicherstellen, dass es kein Neben-, sondern ein Miteinander gibt“. Die parallel gestartete ­Social-Media-Kampagne verkündet: „Wer unsere Art zu leben ablehnt, muss gehen!“

René Rusch (*1976) ist Politikwissenschaftler und TV-Regisseur.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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