Déjà-vu

Das Reizwort „Leitkultur“ hat seine Berechtigung

(c) Peter Kufner
  • Drucken
  • Kommentieren

Ringen um Identität. Einwanderungsgesellschaften, wie Österreich eine geworden ist, müssen sich darüber klar werden, was sie verbindet. 

Um den Begriff der Leitkultur war es, seit ihn der syrisch-deutsche muslimische Politologe Bassam Tibi Ende der 1990er-Jahre in die Welt gesetzt hatte, ruhig geworden. Zwischendurch herrschte einmal eine gewisse Aufregung, als er das deutsche „Unwort“ des Jahres wurde und ein Innenminister ihn provokant mit „Wir sind nicht Burka“ definierte.

Jetzt wird er wieder von der CDU in Deutschland und der ÖVP ins Gespräch gebracht. Das ist zwar politisch absichtsvoll, aber trotzdem nicht so willkürlich und ohne Notwendigkeit, wie von manchen behauptet wird.

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

>>> Mehr aus der Rubrik „Gastkommentare“

Einwanderungsgesellschaften, wie auch Österreich eher nolens als volens eine geworden ist, müssen sich darüber klar werden, was sie eigentlich zusammenhält. Ob es Verbindlichkeiten gibt, die über den bloßen Respekt vor den Gesetzen hinausgehen.

Solche Einwanderungsgesellschaften brauchen einen gemeinsamen Kanon von Vorstellungen und Werten, auf die sie auch die Zuwanderer verpflichten können. Ein bloßer „Verfassungspatriotismus“ nach dem berühmt gewordenen Begriff des deutschen Staatsrechtlers Dolf Sternberger, der darauf hinausläuft, es mit die Beachtung der Gesetze bewenden zu lassen, wird nicht reichen. Obwohl nicht einmal das selbstverständlich ist.

„Keine Gesellschaft funktioniert nur deswegen, weil sie gut organisiert ist.“ (Reinhold Lopatka) Leitkultur entsteht aus einer bestimmten Weise des Zusammenlebens, von der die große Mehrheit der Bevölkerung überzeugt ist und zu der sie selbst einen Beitrag leisten will. Eine freie Gesellschaft funktioniert nur auf einer gemeinsamen Wertebasis. Diese „Leitkultur“ zu nennen, ist durchaus angemessen und berechtigt, zumal der Begriff in Österreich nicht durch Polemik belastet ist.

Über das Ringen um eine österreichische Identität erzählt Oliver Pink ironisch-liebevoll in seinem Kommentar von voriger Woche auf der Digitalseite der „Presse“:

„Ein türkischer Vater erklärt, dass er mit seinem Sohn beim Match Österreich gegen die Türkei in den türkischen Sektor gehen werde, er solle einmal die Stimmung dort erleben. Ein anderer türkischer Vater hält ihm daraufhin sinngemäß entgegen: ,Oida, bist du deppert, wieso machst du das?‘ Worauf der andere erklärt: ,Man soll seine Wurzeln, sein Heimatland nicht verleugnen.‘ Darauf wieder der andere: ,Was für ein Heimatland? Du bist hier aufgewachsen, dein Sohn ist hier geboren und aufgewachsen. Österreich ist dein Heimatland!‘ Darauf wieder der andere: „Ja, aber trotzdem.‘“ Ein Zuwanderer muss nicht alle Lebensgewohnheiten der Einheimischen übernehmen, vor allem auch dann nicht, wenn er religiös begründet andere hat. Der muslimische Politiker türkischer Herkunft muss nicht zwanghaft einen Steireranzug tragen, nur weil er für die ÖVP kandidiert. Er muss sich aber auf die Gesamtheit der österreichischen Lebensweise einlassen und einlassen wollen.

Verpönte „Assimilation“

Der frühere deutsche Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat auf diese Tiefendimension von Integration hingewiesen, die nicht auf der Hand liegt: „Wer nach Deutschland kommt, der kommt in eine Erinnerungsgemeinschaft.“ Er muss gewissermaßen in die Geschichte seiner neuer Heimat eintreten und wird für sie in Haftung genommen, auch wenn das manchem als Zumutung erscheinen mag.

Das gilt in Österreich genauso. Zur österreichischen Leitkultur gehört das Wissen und das Bewusstsein davon, wie dieses Land und seine tragenden Institutionen entstanden sind. Zu ihr gehört auch das Eingeständnis und das Mittragen einer historischen Schuld, so befremdend das vielleicht manchem Immigranten erscheinen mag. Das erklärt auch die Solidarität mit Israel und die Bekämpfung des eingesessenen und des importierten Antisemitismus.

„Assimilation“ ist ein verpöntes Wort. Wer von der Notwendigkeit der Integration von Flüchtlingen und anderen Migranten redet und dabei zeigen will, dass er auf der Höhe der Zeit und des aufgeklärten Bewusstseins ist, beteuert unbedingt, Integration dürfe auf keinen Fall „kulturelle Assimilation“ bedeuten.

Das ist eine wohlfeile Formel, aber was soll sie bedeuten? Bis wohin reicht Integration und ab wann ist der geförderte bis erzwungene Prozess der Anpassung an die österreichische Lebenswirklichkeit schon – angeblich illegitime – Assimilation? Es war ausgerechnet Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der in einer TV-Pressestunde einmal beiläufig bemerkte: „Assimilation oder wie man so sagt, Integration halt.“ Eine Trennlinie ist also offensichtlich nicht zu ziehen.

Verpflichtung auf Werte

Viele Österreicher kennen noch das Musical „Sound of Music“, verfilmt mit Julie Andrews, die Geschichte der Kinder der in die USA emigrierten Familie des Barons Trapp. Von ihnen wird erzählt, dass sie auf der Bühne in den USA im Dirndl und in der Lederhose noch ihre österreichischen Lieder gesungen, daheim bei Tisch aber schon Englisch gesprochen haben.

Nach der herrschenden Auffassung hätten die Kinder in den eigenen vier Wänden noch die Muttersprache – pardon – Erstsprache sprechen müssen. Sie ließen aber ihre Herkunft schneller hinter sich, als es heutigen Immigranten in Europa zugemutet werden darf. Integration, die Assimilation zum Ziel hat, wie es Van der Bellen unabsichtlich zugegeben hat. Multikulturalität kann nur ein vorübergehender Zustand sein.

Im 50-Punkte-Programm, das der Expertenrat für Integration des Bundeskanzleramts vor Jahren erstellt hat, kommt auch eine Verpflichtung der Immigranten auf die westlichen und damit die österreichischen Werte vor. Namentlich genannt werden Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, gesellschaftlicher und politischer Pluralismus, sowie der Katalog der Menschenrechte, besonders Religionsfreiheit (aber nicht nur die eigene, sondern auch die der anderen) und die Gleichstellung von Mann und Frau.

Unverdächtiger Zeuge

Zu meinen, man könne zwar die Akzeptanz dieser Werte einfordern, dürfe dabei aber keine „kulturelle Assimilation“ betreiben, ist ein Missverständnis. Die moderne westliche Demokratie und die mit ihr verbundenen „Werte“, beruhen auf einem kulturellen Vorverständnis, ohne das es sie nicht gibt.

Die universale „Leitethik“, für die Antal Festetics an dieser Stelle plädiert hat, ist keineswegs so universal, wie er sich wünscht, sondern eben sehr europäisch und für viele Immigranten, etwa aus dem islamischen Kulturkreis, keineswegs selbstverständlich. Sie darf und muss dennoch eingefordert werden.

Worin sie im Kern besteht, können wir jemanden sagen lassen, der völlig unverdächtig ist, das Christentum aus persönlicher Vorliebe zu überschätzen, nämlich den deutschen Paradephilosophen ­Jürgen Habermas, der sich selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet: „Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeit und der christlichen Liebesethik. Dazu gibt es bis heute keine Alternative.“

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Hans Winkler ist Journalist, war Leiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“ und lebt in Wien und Graz.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.