Analyse

Welterbe-Status gefährdet: Wie ein Straßentunnel die Steinzeit-Kultstätte Stonehenge „entweiht“

Dass die jungsteinzeitliche Kultstätte von Stonehenge (im Bild beim Fest zur vergangenen Sommer-Sonnenwende) wegen einer geplanten Umfahrung samt Tunnel eine düstere Zukunft haben könnte, ist unwahrscheinlich.
Dass die jungsteinzeitliche Kultstätte von Stonehenge (im Bild beim Fest zur vergangenen Sommer-Sonnenwende) wegen einer geplanten Umfahrung samt Tunnel eine düstere Zukunft haben könnte, ist unwahrscheinlich. APA / AFP / Daniel Leal
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Ein historisches Bauprojekt bei den nicht minder historischen Steinkreisen von Stonehenge sorgt vielfach für Kritik. Nicht nur von Umweltschützern, auch Esoteriker und Archäologen kritisieren die Pläne. Die Unesco hat den Entzug des Welterbe-Status in den Raum gestellt, was de facto aber belanglos bleiben dürfte.

Salisbury/London. Dass ein Bauprojekt, bei dem ein weltberühmter Ort höchster zivilisatorischer Bedeutung dadurch aufgewertet und geschützt werden soll, indem man eine störende, stark befahrene Straße in seiner Nähe verschwinden lässt, so viel Staub aufwirbelt, ist kaum zu glauben, aber wahr: In Großbritannien herrscht Unruhe, nachdem der High Court in London im Februar eine Klage gegen einen geplanten Straßentunnel in der Nähe der steinzeitlichen Kultstätte Stonehenge nahe Salisbury abgewiesen hatte. Nun gibt es unter anderem Befürchtungen, dass die UN-Organisation für Bildung, Kultur und Wissenschaft (Unesco) Stonehenge seinen Status als Weltkulturerbe entziehen könnte.

In den Tunnel soll ein Abschnitt der Überlandstraße A303 versenkt werden, der seit gefühlten Ewigkeiten in nur etwa 200 Metern Entfernung von dem Ensemble aus riesigen Steinblöcken vorbeiführt und einen guten Blick darauf bietet. Die Straße trägt seit 1933 die Kennung A303, ist vom Verlauf her aber viel älter und aufgrund ihres schlechten Ausbaus (zweispurig) und der überregionalen Bedeutung schon seit den 1950er Jahren häufig von dichtem Verkehr bis hin zu Staus geplagt.

Ein solcher Tunnel, dessen Portale jeweils in großem Abstand von der Kultstätte geplant sind, wurde schon in den 1990ern vorgeschlagen. Projektierte Kosten im Ausmaß von bis zu 2,5 Milliarden Pfund (nach heutigem Wechselkurs fast drei Milliarden Euro) wirkten aber abschreckend. Dennoch wurde das Projekt in den 2010er-Jahren entscheidungsreif, bis Einsprüche von Umwelt- und Denkmalschützern um die Gruppe „Save Stonehenge World Heritage Site“ (SSWHS) und andere es 2021 vor dem High Court stoppten.

Einwände durch Höchstrichter nicht nachvollziehbar

Vorigen Juli legte die zuständige Fernstraßenbehörde das Projekt neu auf, die Gegner bekämpften es erneut und verloren diesmal vor Gericht. Die gesammelten Einwände, so der Einzelrichter, seien weitgehend unsubstanziell bis nicht nachvollziehbar.

Eines der projektierten Tunnelportale in großem Abstand von den Stonehenge-Steinkreisen.
Eines der projektierten Tunnelportale in großem Abstand von den Stonehenge-Steinkreisen.Highways England/Britisches Verkehrsministerium

Der Tunnel soll zwei Kilometer lang sein, die Gesamtumfahrung inklusive der Oberflächentrasse etwa 13 Kilometer. Das Verkehrsministerium bzw. die Fernstraßen-Agentur betonen, dass der Tunnel den Verkehr auf der in Ostwestrichtung durch Südengland verlaufenden A303 insgesamt flüssiger machen werde, ihn vor allem aber aus dem Sicht- und Hörbereich von Stonehenge entferne, dessen innere Steinkreise einen Durchmesser von etwa 30 Metern aufweisennt. Auch die Abgassituation werde an der von Touristen oft überlaufenen Stätte verbessert, zu der man heute übrigens nur noch via Shuttlebus oder einen längeren Fußmarsch gelangen kann (noch Ende der 90er konnte man gleich in der Nähe parken, sofern man Glück hatte).

Die alte Straße nahe der Steinkreise werde zwar von der Trasse her fortbestehen, aber verkleinert und umgewidmet, nämlich für Fußgänger, Radfahrer, Reiter. Letztlich werde der Ort seinem Zustand in früheren Äonen mehr gleichen als heute.

So sieht es aktuell dort aus, im Vordergrund die A303.
So sieht es aktuell dort aus, im Vordergrund die A303.Getty/Matt Cardy

Dennoch nannte John Adams, Sprecher der NGO „Stonehenge Alliance“ , das Urteil vom Februar „einen schwarzen Tag für Großbritannien“, wobei er allerdings zu einem seltsamen Vergleich griff: „Man stelle sich vor, es würde eine Umleitungs-Hochstraße über die ägyptischen Pyramiden oder über eine Ecke der Gärten von Versailles gebaut, das würden wir auch für außerordentlich seltsam halten.“

Gesättigt mit historischen Relikten

Nun ist ein Tunnel natürlich schon etwas anderes als eine Hochstraße und der Vergleich daher irgendwie sehr schief. In der Tat verweisen die Tunnelkritiker auf den Untergrund, den der geplante Bau gefährde: Die einst für damalige Verhältnisse wahrscheinlich dicht besiedelte Gegend (die mächtigen Steinkreise samt Zusatzbauten entstanden zwischen etwa 3100 und 1600 vor Christus und hatten kultische, astronomische und soziale Zwecke) sei nämlich nach derzeitigem Wissen und Vermutungen mit jungsteinzeitlichen Relikten sowie solchen der Römer-Ära, angelsächsischen, frühenglischen und jüngeren Epochen förmlich gesättigt.

Der Archäologe Mike Parker Pearson (University College London) weist darauf hin, dass im Umfeld von Stonehenge, einer herrlichen hügelig-flachen Gegend mit viel Grün, nicht zuletzt dessen Erbauer und Betreiber wohnten. Schätzungsweise eine halbe Million Artefakte könnten durch das Graben des Tunnels samt der Anschlüsse und Portale großteils unerkannt im Aushub verschwinden. Das sei ein enormer Verlust und werde auch das Bild der Gegend für künftige Archäologen quasi künstlich verzerren.

Esoterische Bedenken

Umweltschützer wiederum behaupten, dass der Bau die lokale Fauna verstören werde, und da ist noch ein Einwand der esoterischen Art: Mitglieder neuheidnischer und neokeltischer (druidischer) Kulte könnten die Untergrabung der Gegend als „Entweihung“ betrachten. Der „Verlust von Harmonie, Energieströmen und Ruhe“ werde „die friedliche Verehrung höherer Geister und der Ahnen stören“, schrieb in der Tat der britische „Erzdruide“ und selbsterklärte Hohepriester Lois Lloyd 2019 in einem Brief an die Regierung.

Gegner des Tunnels vor dem Gebäude des High Court, links vorne Vertreter neuheidnischer Kulte.
Gegner des Tunnels vor dem Gebäude des High Court, links vorne Vertreter neuheidnischer Kulte.Getty/Adrian Dennis

Unesco vermutet ungeahnte Schätze

Die Unesco (Sitz Paris) wiederum teilt tatsächlich die archäologischen Argumente. Sie hat Kritik an dem Projekt formuliert, weil die Gegend eben bisher archäologisch nur mäßig erforscht sei und sich dort ungeahnte Schätze im Sinne von Kulturgut befinden könnten. Es wurde 2021 sogar in den Raum gestellt, Stonehenge, seit 1986 Weltkulturerbe, auf die Liste der „gefährdeten Weltkulturgüter“ zu setzen, das wäre ein erster Schritt vor der Streichung. Auf der Gefährdungsliste stehen aktuell 56 Objekte, darunter auch das historische Zentrum von Wien.

Gestrichen von der Weltkulturerbe-Liste der Unesco wurden laut Tunnelgegner John Adams bisher nur drei Stätten. Eine davon betraf bereits England, nämlich das alte Kaufmannszentrum samt den Docks von Liverpool. Das geschah 2021, für die Unesco waren die vielen Bauten der jüngeren Vergangenheit dort sowie anlassbezogen neue Projekte dort einfach zu viel. Die neue „Waterfront“ Liverpools wird von vielen Beobachtern, Architekten und Touristikern dennoch sehr gelobt, man kann hier allerdings wirklich geteilter Meinung sein, vieles wirkt etwas zu schick, zu kühl, zu verkrampft urban.

Die Stadtverwaltung von Liverpool hatte den Verlust des Welterbe-Titels zwar bedauert und kritisiert, aber später ausgerichtet, dass ihr das relativ egal sei. Die Besucherzahlen seien deswegen nicht gesunken, der Verlust kein Drama.

Wenn nun auch Stonehenge wegen des Tunnels bzw. der Umfahrung gestrichen würde, wäre das eine internationale Peinlichkeit für Großbritannien, meint Adams. Wie das Beispiel Liverpool andeutet, könnte das in der Praxis allerdings bedeutungslos sein und höchstens die höheren Geister stören.

Der Unesco-Weltkulturerbe-Status ist sicher schön, wird aber in der Praxis maßlos überschätzt. Als interessierter Besucher will man Stonehenge wegen Stonehenge sehen und nicht wegen irgendeines Etiketts. (wg)

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