Gastkommentar

Wie man Russlands Verschleppung ukrainischer Kinder rückgängig machen kann

Teil 2. Die internationale Öffentlichkeit wird nur langsam auf die russische Massendeportation ukrainischer Kinder aufmerksam. Was jetzt zu tun wäre.

Seit Beginn des russisch-ukrainischen Krieges 2014 und vor allem seit 2022 verschleppt und deportiert der russische Staat gezielt ukrainische Zivilisten, darunter Tausende unbegleitete Minderjährige. Eines der Motive der russischen Großinvasion seit 2022 war und ist die Russifizierung ukrainischer Bürger, um die schrumpfende Bevölkerung Russlands aufzufüllen. Womöglich ist dieses wenig diskutierte Ziel für Moskau ebenso wichtig, wie die Annexion ukrainischen Territoriums. Verschleppung und Deportation ukrainischer Kinder durch russische staatliche und nichtstaatliche Besatzungsakteure findet seit 2014 auf der Krim und im besetzten Donezbecken statt. Doch wurde diese Praxis erst allgemein bekannt, als Russlands illegale Verschleppung ukrainischer Kinder und Jugendlicher 2022 stark anstieg.

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Die ukrainische Regierung hat seit 2022 verschiedene Initiativen ins Leben gerufen, um des Problems Herr zu werden. Dazu gehören das Zentrum zum Schutz der Kinderrechte, das Programm „Bring Kids Back UA“ sowie der Koordinierungsrat für Kinderschutz und Sicherheit. Die Stiftung „Save Ukraine“, die ukrainische Sektion von SOS-Kinderdorf oder das Regionale Zentrum für Menschenrechte (RCHR) gehören zu den ukrainischen Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Rückkehr verschleppter Kinder einsetzen. Von den bislang fast 20.000 offiziell registrierten verschleppten oder deportierten Kindern sind bislang nur etwa 400 Kinder in den regierungskontrollierten Teil der Ukraine zurückgekehrt.

Die internationale Öffentlichkeit wird nur langsam auf die russische Massendeportation ukrainischer Kinder aufmerksam. Am 1. Juli 2022 forderten internationale Menschenrechtsorganisationen ein Moratorium der Adoption ukrainischer Kinder, welche nicht mit Regelungen der ukrainischen Regierung und dem Völkerrecht in Einklang steht. Bis Anfang März 2023 wurde dieser Appell von 43 NROs unterzeichnet. Im September 2022 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung an, in der Russland unter anderem aufgefordert wird zu einer „sofortigen Einstellung [...] aller Zwangsverbringungen von Kindern in die von Russland besetzten Gebiete und Russische Föderation sowie aller interstaatlichen Adoptionen von Kindern, die aus dem gesamten international anerkannten Hoheitsgebiet der Ukraine verbracht wurden; [...] Aufhebung aller Gesetze, die die Adoption ukrainischer Kinder erleichtern; [...] unverzüglichen Bereitstellung von Informationen über die Namen, den Aufenthaltsort und das Wohlergehen aller inhaftierten oder deportierten Ukrainer und Ermöglichung der sicheren Rückkehr aller ukrainischen Zivilisten, einschließlich Kindern“.

Kindertransfer ist Völkermord

In seiner Entschließung vom Februar 2023 ging das Europäische Parlament noch weiter. Es erklärte, dass der Transfer von Kindern von einer Volksgruppe in eine andere den Tatbestand des Völkermords erfüllt. Am 1. Juni 2023, dem Internationalen Tag des Kindes, gaben 23 ausländische diplomatische Vertretungen in der Ukraine eine gemeinsame Erklärung zur Zwangsverbringung ukrainischer Kinder ab: „Wir werden Russland für seine illegalen und barbarischen Handlungen in der Ukraine zur Rechenschaft ziehen“.

Trotz der umfassenden Verurteilung halten sich Tausende von unbegleiteten ukrainischen Minderjährigen ohne ihre ukrainischen Erziehungsberechtigten in Russland oder in den von Russland besetzten Gebieten auf. Je länger sie von ihrer Heimat und Familie getrennt bleiben, desto komplizierter wird ihre künftige Rückführung. Bis verantwortungsvollere Regierungen in Russland und Belarus an die Macht kommen, sind daher massive multilaterale und multidirektionale Maßnahmen erforderlich, um spürbare Verbesserungen zu bewirken.

Nationale und transnationale Akteure müssen von verbalen Interventionen zu ergebnisorientiertem Handeln übergehen. Das RCHR hat vorgeschlagen, dass – anstelle von bloßer Erwähnung russischer Massendeportation ukrainischer Kindern in allgemeinen Erklärungen – enger fokussierte Ad-hoc-Dokumente verabschiedet und veröffentlicht werden sollten, in denen die Rückführung ukrainischer Kinder Hauptthema ist. Die UN-Generalversammlung, weitere multinationale Versammlungen und so viele nationale Parlamente wie möglich sollten entsprechende Resolutionen verabschieden.

Darüber hinaus hat das RCHR vorgeschlagen, Vereinbarungen zwischen der Ukraine und bereitwilligen Partnern über Zusammenarbeit zur Rückführung verschleppter Kinder zu schließen; die Liste der derzeit mit Sanktionen belegten russischen Personen, die an Deportationen beteiligt sind, zu erweitern und die Möglichkeiten der Einflussnahme auf bereits sanktionierte Personen auszudehnen; neue Haftbefehle nach Vorbild der IStGH-Haftanträge gegen Putin und Lwowa-Belova auszustellen; den in den bestehenden Haftbefehlen aufgelisteten Straftaten neue hinzuzufügen; und eingefrorene russische Vermögenswerte zu beschlagnahmen, um das Leid von ukrainischen Kindern und anderer Opfer illegaler Deportationen und Zwangsumsiedlungen zu lindern.

Drastische Folgen für jene, die an Verschleppungen beteiligt sind

Beschränkungen für russische Beamte, die an der Verschleppung und Assimilierung ukrainischer Kinder beteiligt sind, sollten ein wichtiger Bestandteil westicher und nichtwestlicher Sanktionspakete werden. Bereits existierende EU-Sanktionen im Zusammenhang mit der Deportation und Umerziehung ukrainischer Kinder sollten auf russische NROs, Unternehmen, Schulen, Universitäten, Berufsverbände usw. ausgedehnt werden, die sich - oft ganz offen, ja demonstrativ - an den Verschleppungs- und Russifizierungsmaßnahmen der russischen Regierung beteiligen.

Eine besondere Herausforderung ist, wie man unwissenden Teile der internationalen Gemeinschaft auf die Dimension, Schwere und Tragödie der russischen Politik massenhafter Kindesverschleppung aufmerksam machen kann. Während viele Experten, Politiker und Diplomaten im Westen bereits gut informiert sind, ist die Kenntnis der skandalösen Situation bei „Normalbürgern“ europäischer und anderer Länder begrenzt. Diese Lücke muss geschlossen werden mit besonderem Augenmerk auf Länder des so genannten Globalen Südens. In dieser Region sind apologetische Kremlnarrative über den Russisch-Ukrainischen Krieg bislang besonders populär. Spezielle Stipendien, Preise, Wettbewerbe, Studienreisen, Workshops usw. für Journalisten, Redakteure, Blogger, Verleger, Experten, Künstler usw. können Abhilfe schaffen. Analytische, journalistische und künstlerische Texte, Podcasts und Videos, die für die breite Öffentlichkeit bestimmt sind, sollten zur Deutlichmachung des Problems produziert und verbreitet werden.

Dieser Text fasst die Ergebnisse des Berichts „Russia‘s Forcible Transfers of Unaccompanied Ukrainian Children“  zusammen, der 2023 vom Unterausschuss für Menschenrechte des Europäischen Parlaments in Auftrag gegeben wurde.

Reaktionen senden Sie bitte an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Beigestellt.

Dr. Andreas Umland (*1967 in Jena) ist Analytiker am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) im Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten (UI).

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