Gastkommentar

Das Los der verschleppten ukrainischen Kinder

(c) Peter Kufner
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Teil 1. Die Verschleppung von Kindern ist ein wichtiger Aspekt von Putins Aggressionskrieg gegen sein Nachbarland Ukraine.

Zwischen dem 24. Februar 2022 und heute hat Russland mindestens 19.546 unbegleitete ukrainische Kinder und Jugendliche innerhalb der besetzten Gebiete der Ukraine verschleppt oder nach Russland deportiert. Dies ist eine offizielle Zahl, die auf dem Portal „ChildrenOfWar.gov.ua“ des ukrainischen Staates erscheint.

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Diese Regierungsstatistik umfasst allerdings nur jene ukrainischen Kinder, über deren russische Verbringung durch ukrainische Verwandte, Zeugen oder Gemeinden an die Zentralregierung der Ukraine offiziell Bericht erstattet wurde. Vermutlich ist die tatsächliche Zahl der betroffenen Kinder wesentlich höher.

Darunter fallen Kriegskinder im wörtlichen Sinne, das heißt Minderjährige, die aus verschiedenen Gründen während des russischen Angriffs obdach- und obhutslos wurden. Diese unbegleiteten Kinder wurden von russischen Staatsorganen in den besetzten ukrainischen Gebieten eingesammelt und nicht an ihre ukrainischen Verwandten beziehungsweise den ukrainischen Staat zurückgegeben.

Lockrufe ins Sommerlager

In anderen Fällen wurden ukrainische Eltern oder Verwandte einiger Kinder von russischen Agenten (Beamten, Aktivisten, Kollaborateuren usw.) überredet, ihre Kinder in russische Sommerlager oder andere Erholungszentren zu schicken. Nach einer vereinbarten Erholungszeit wurden viele von ihnen länger festgehalten, Russifizierungskampagnen ausgesetzt und/oder an einen anderen Ort gebracht. Eine dritte Gruppe sind Minderjährige in Waisenhäusern und Kinderheimen.

Nach Angaben des Regionalen Zentrums für Menschenrechte (RCHR) wurden bis September 2023 ca. 3.855 Minderjährige, die in ukrainischen Institutionen lebten, verschleppt. Einige ukrainische Kinder wurden in so genannten Filtrationslagern  entlang der Frontlinie von ihren Eltern oder anderen Verwandten getrennt.

Die meisten dieser illegal verbrachten unbegleiteten Kinder haben enge ukrainische Verwandte oder andere Erziehungsberechtigte. Einige dieser Erziehungsberechtigten leben in den von den regierungskontrollierten Gebieten der Ukraine, andere sind selbst Vertriebene und leben im Ausland. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle haben weder die Verwandten noch die zuständigen ukrainischen Regierungsbehörden ihre Zustimmung zur dauerhaften Überstellung dieser unbegleiteten Kinder nach Russland gegeben. Etliche Ferienlager in Russland werben mit Integrationsprogrammen für ukrainische Kinder.

In den Jahren 2022 und 2023 wurden in Russland etliche Gesetze und andere Rechtsakte verabschiedet, um die Assimilierung ukrainischer Kinder zu erleichtern. Diese Regelanpassungen haben dazu geführt, dass laut einem Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Kinder praktisch kein Mitspracherecht bei dem gesamten Prozess (des Wechsels der Staatsangehörigkeit) haben und dasselbe gilt für ihre Eltern oder andere (ursprüngliche) Erziehungsberechtigte in Fällen, in denen Kinder von ihnen getrennt werden.

Mit der Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft haben Adoptiveltern ukrainischer Kinder Anspruch auf soziale Garantien, das heißt Zugang zu staatlichen Subventionen. Dies schafft finanzielle Anreize für Adoptionen. Nach dem russischen Familiengesetzbuch sind adoptierte Kinder biologischen Kindern der Eltern gleichgestellt.

Damit ist unter anderem eine Änderung des Namens sowie Geburtsdatums und -ortes des Kindes durch die Adoptiveltern möglich. Dies macht es schwierig, den Aufenthaltsort der von Russland verschleppten ukrainischen Kinder beziehungsweise die Identität ihrer Verwandten in der Ukraine festzustellen.

Diverse Behörden beteiligt

An den Verbringungs- und Adoptionsverfahren sind verschiedene russische Regierungsstellen beteiligt, wobei die neben Staatschef Wladimir Putin ebenfalls vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gesuchte Kinderbeauftragte Russlands Maria Lwowa-Belowa eine koordinierende Rolle spielt. Dutzende von russischen föderalen, regionalen und lokalen Behörden setzen das Verschleppungs- und Russifizierungsprogramm um. Sie sind mit logistischer Koordinierung, Mittelbeschaffung, Bereitstellung von Hilfsgütern, Verwaltung von Kinderlagern und Russifizierungskampagnen in Russland sowie in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine befasst.

Ukrainische Politiker und Staatsbeamte haben wiederholt an Russland appelliert, diese Praxis einzustellen beziehungsweise zu revidieren. Im März 2023 etwa forderte der ukrainische Vizepremierministerin Iryna Wereschtschuk Moskau auf, unverzüglich die Listen aller (ukrainischen) Waisen und Kinder, die elterlicher Fürsorge entzogen sind und die unter Moskaus Kontrolle sind, an die Ukraine zurückzugeben.

Seit Mitte 2022 richtet sich die ukrainische öffentliche Kritik auch zunehmend an internationale Organisationen, deren Aufgabe es eigentlich wäre, das Verschleppen von Kindern zu verhindern und rückgängig zu machen.

Mithilfe aus Belarus

Paradoxerweise beteiligte sich die belarussische Rotkreuzgesellschaft, die bis vor kurzem Mitglied der Internationalen Föderation des Roten Kreuzes (IKRK) war, an der staatlichen Zwangsverbringung ukrainischer Kinder nach Belarus, anstatt dieser Praxis entgegenzuwirken.

Der ukrainische Staat hat keinerlei Handlungsmöglichkeiten innerhalb Russlands, von Belarus und in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine. Daher hat Kyjiw wiederholt das IKRK, die Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für Kinder in bewaffneten Konflikten, das Kinderhilfswerk UNICEF und andere internationale Strukturen aufgefordert, ihre Arbeit zur Lokalisierung der verschleppten ukrainischen Kinder sowie ihre Rückführung in die Ukraine und Wiedervereinigung mit ihren Familien zu intensivieren.

Doch haben bisherige Bemühungen dieser globalen Akteure bisher kaum zur Linderung des Problems beigetragen. Die massenhafte russische Verschleppung ukrainischer Kindern dauert an und wurde nur in wenigen Fällen rückgängig gemacht.

Putins demografisches Projekt

Moskaus Verschleppung ukrainischer Kinder ist ein wichtiger Aspekt der russischen Aggression gegen die Ukraine, der ihren Charakter als eine auch demografische, nicht nur geografische Eroberung verdeutlicht. Putins sogenannte „Militärische Spezialoperation“ ist ein national-kulturelles und nicht nur ein militärisch-politisches Projekt.

Die Offenlegung von Details über Moskaus horrender Deportationspolitik in der Ukraine seit 2014 kann dazu beitragen, die Natur von Russlands völkermörderischem Angriff besser zu verstehen, und warum es notwendig ist, ihn so schnell wie möglich zu stoppen.

Dieser Text fasst die Ergebnisse des Berichts „Russia‘s Forcible Transfers of Unaccompanied Ukrainian Children“  zusammen, der 2023 vom Unterausschuss für Menschenrechte des Europäischen Parlaments in Auftrag gegeben wurde.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Dr. Andreas Umland (*1967 in Jena) ist Analytiker am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) im Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten (UI).

Andreas Umland
Andreas Umlandbeigestellt.

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