Fleischproduktion

„Wir sehen entweder das lebendige Schwein oder das Schnitzel“

Stand Fleisch einst für Fortschritt und Wohlstand, so gilt es zunehmend als Chiffre für Fehlernährung, Tierleid und Umweltzerstörung.
Stand Fleisch einst für Fortschritt und Wohlstand, so gilt es zunehmend als Chiffre für Fehlernährung, Tierleid und Umweltzerstörung.APA / Roland Schlager
  • Drucken

Die Menschen haben immer schon tierische Produkte konsumiert, seit jeher gehören sie zu unserer Ernährung. Eine neue Publikation widmet sich der gegenwärtigen Entfremdung vom Fleisch und der Verdinglichung von Lebendigem in globalisierten Märkten.

Nutztierhaltung und Fleischkonsum sind heute weltweit tief in Ernährungskulturen verwurzelt. In früh industrialisierten Ländern ist Fleisch-Essen für die meisten Menschen unkompliziert möglich und ein eingelöstes Wohlstandsversprechen. Dem zum Trotz entwickelte sich Fleisch als Kulturgut zum Politikum. Ein bei Vandenhoeck + Ruprecht erschienener Sammelband („Fleischwissen“) zeigt, wie das gekommen ist, und legt die historisch gewachsene Logik von Fleischkonsum offen. Auch zwei österreichische Forschende steuerten Texte bei.

Fleisch als Profitquelle und Massenware

Der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Ernst Langthaler (Uni Linz) umreißt die 150-jährige Beziehungsgeschichte zwischen Fleisch und Kapitalismus sowie deren hohe Folgekosten für Gesellschaft (z. B. Überernährung) und Umwelt (z. B. Treibhausgasemissionen). Der Forscher spricht dabei von einem „globalen Fleisch-Komplex“, um die vernetzten Schauplätze von Futteranbau, Mastviehhaltung und Konsum zu beschreiben. Charakteristisch dafür: Viele einflussarme Produzierende und Konsumierende stehen wenigen Unternehmen gegenüber, die einen Großteil des Warenflusses kontrollieren und daraus hohe Profite generieren. „Die jeweils zehn größten Unternehmen verfügen über ein Viertel des Umsatzes an Fertiglebensmitteln, drei Viertel des Umsatzes an Pestiziden und neun Zehntel des Umsatzes an Saatgut“, schreibt Langthaler.

»Der von Großbritannien aus expandierende Industriekapitalismus trieb im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert eine Agrar- und Ernährungsrevolution an.«

Ernst Langthaler,

Sozial- und Wirtschaftshistoriker (Uni Linz)

Formiert hat sich dieser Fleisch-Komplex in einem von Großbritannien zentrierten Nahrungsregime: „Im vorindustriellen Europa besaß Fleisch für die Ernährung der Bevölkerungsmehrheit wenig Gewicht; weitaus relevanter als Eiweißträger waren Milch und Eier.“ Die Basis der Alltagsnahrung bildeten Kohlehydratträger wie Weizen oder Roggen und zunehmend auch Mais und Kartoffeln. Nur Adel und aufstrebendes Bürgertum grenzten sich durch Fleischkonsum gegenüber der restlichen Mehrheitsbevölkerung ab. Langthaler: „Der von Großbritannien aus expandierende Industriekapitalismus trieb im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert eine Agrar- und Ernährungsrevolution an.“ So hatten die industriellen Zentren eine steigende Nachfrage an Nahrung, woraufhin groß- und mittelbäuerliche Pachtbetriebe kleinere Gruppen verdrängten und das Kulturpflanzen- und Nutztierarrangement optimiert wurde („high farming“).

Nach und nach wurde Fleisch für die Industriearbeiterschaft zu einem Aufstiegssymbol. Bestärkung habe dieser „industriegesellschaftliche Fleischhunger“ durch die moderne Ernährungswissenschaft gefunden, so der Linzer Historiker. Diese propagierte (tierisches) Eiweiß als für die Muskelkraft entscheidenden Hauptnährstoff.

Farmen verdrängten Bisonherden

Ein beschleunigtes Bevölkerungswachstum und wiederkehrende Missernten führten dazu, dass Großbritannien und andere Kolonialmächte Ausschau nach überseeischen Landressourcen hielten – der Startschuss für den Aufbau eines internationalen Handelsnetzes. Und: „Billige Grundnahrungsmittel für die Industriearbeiterschaft vermochten deren Protestpotenzial einzudämmen und Lohnkosten zu verringern.“ Einen Knotenpunkt bildete Chicago, Sitz der weltweit wichtigsten Getreidebörse und Hauptstandort der US-amerikanischen Fleischverarbeitungsindustrie. Von hier aus etablierte sich – dank Ausbau des Eisenbahnnetzes sowie der Einführung von Kühlwaggons – ein neuartiges Zeit-Raum-Management abseits von Saisonalität und Regionalität.

Als Folge expandierten Siedlerfamilien immer weiter und verdrängten mit ihren Farmen die Bisonherden, die Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerung. Das nach der Weltwirtschaftskrise 1930 zunehmend US-zentrierte Nahrungsregime zeichnete sich schließlich durch Technisierung und Kommodifizierung aus. Einen neuerlichen, bislang unerreichten Expansionsschub habe der Fleisch-Komplex durch die Welthandelsorganisation WTO erfahren, resümiert Langthaler. Es galt: weniger Staatsprotektion, mehr Marktwettbewerb.

Fleisch provoziert Extreme

Einen gänzlich anderen Aspekt von „Fleischwissen“ beleuchtet die Ethnografin Oliwia Murawska (Uni Innsbruck), die sich mit Stimmungen auseinandersetzt. Stand Fleisch einst für Fortschritt und Wohlstand, so gilt es zunehmend als Chiffre für Fehlernährung, Tierleid und Umweltzerstörung, es wurde „zum Indikator für die jeweiligen Befindlichkeiten einer Zeit“. Murawska macht individuelle, kontrastreiche Stimmungen ausgehend von ethnografischen Notizen zu einer Hausschlachtung und einem Tiermehlfabrik-Besuch fassbar. Fleisch provoziere sowohl auf Ebene der Diskurse als auch auf jener der Emotionen Extreme: „Für gewöhnlich sehen wir entweder das lebendige Schwein oder das Schnitzel.“

Gunther Hirschfelder, Lars Winterberg et al. (Hg.): <strong>Fleischwissen </strong>(Vandenhoeck + Ruprecht, 519 Seiten, 73 Euro)
Gunther Hirschfelder, Lars Winterberg et al. (Hg.): Fleischwissen (Vandenhoeck + Ruprecht, 519 Seiten, 73 Euro)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.