Wiener Festwochen

Würde gegen Souveränität: Omri Boehms „Rede an Europa“

Im Lichte der Aufklärung, unter Polizeischutz: der Philosoph Omri Boehm bei seiner „Rede an Europa
Im Lichte der Aufklärung, unter Polizeischutz: der Philosoph Omri Boehm bei seiner „Rede an Europa" am Wiener Judenplatz.APA / Roland Schlager
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In seiner „Rede an Europa“ auf dem Wiener Judenplatz plädierte der deutsch-jüdische Philosoph Omri Boehm für „Verminderung der nationalen Souveränität“ – in Israel und Europa. Eine schwierige, doch würdige Rede. Bei der zwar kritische Plakate, aber keine Eier gesichtet wurden.

„Lassen Sie die Eier dort, wo sie hingehören!“, forderte Festwochen-Intendant Milo Rau. Alle auf dem abendlichen, doch noch hellen Judenplatz wussten, worauf er anspielte: auf die Eier, von denen Ariel Muzicant, Ex-Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde und Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses, gesagt hatte, er würde sie werfen, wäre er 30 Jahre jünger. Nämlich eben auf dem Judenplatz bei der „Rede an Europa“ des deutsch-jüdischen Philosophen Omri Boehm. Denn, so Muzicant, es sei die „falsche Rede am falschen Ort“. Er war durchaus nicht der einzige Kritiker. Die Stiftung der Erste Bank und das Jüdische Museum hatten gar die Kooperation mit der Veranstaltung gestrichen.

Einige Demonstranten, die sich nach Beginn der Rede vor der Bühne postierten, waren offenbar ebenfalls der Meinung, Boehm sei fehl am Platz. Nein, es waren keine Sympathisanten der Palästinenser, wie sie derzeit so oft in den Städten Europas demonstrieren. Eher im Gegenteil. Ihre Plakate trugen Aufschriften wie „Free Gaza from Hamas“ oder „Varoufakis, Ernaux & Co. machen Wien unsicher“.

Auch auf dem Gebäude, in dem die Filiale des Jüdischen Museums untergebracht ist, hing ein Transparent. „Dr. Karl Lueger: Wer a Jud’ ist, das bestimm i“, stand darauf. Und: „Dämonisierung Israels ist Antisemitismus!“ Die am Platz anwesende Direktorin des Museums, Barbara Staudinger, legt Wert darauf, dass nicht das Museum dieses Plakat affichiert hat, sondern die orthodoxe jüdische Organisation Misrachi, der das Haus gehört.

Zwischenrufe für einen Versöhner?

Eine schöne Pointe des Abends: Im Verlauf seiner Rede stimmte Omri Boehm den meisten Slogans der Protestierer zu. Doch zunächst antwortete er auf die Zwischenrufe: „Ich höre euch zu, hört ihr mir auch zu.“ Etliche taten es. Doch er machte es ihnen, ja: niemandem leicht, den potenziellen Buhrufern genauso wenig wie den willigen Klatschern. Oft hörte man Applaus nach Aussagen, die Boehm gar nicht affirmativ brachte, sondern kritisierte.

„Wir leben offenbar in einer Zeit, in der ein Versöhner provoziert“, sagte Milo Rau eingangs – nachdem er, seine Revoluzzer-Rolle kokett ironisierend, erklärt hatte, er habe schon daran gezweifelt, ob Omri Boehm nicht zu wenig provokant für die Festwochen sei.

Ist Boehm wirklich ein Versöhner? Sind seine Vorschläge – ausgearbeitet in „Israel – Eine Utopie“ (2022) – ehrlich versöhnlich gemeint? Ja. Es wirkt so. Aber ist es unverständlich, dass manche Freunde des Staates Israel auf sie erzürnt reagieren? Nein. Boehm bezeichnet sich zwar als Zionisten, beruft sich auf Herzl, doch er fordert von Israel explizit eine „Verminderung der nationalen Souveränität“. Und der jüdischen Identität. Sein Modell einer „Haifa Republic“ sieht eine Föderation aus Israel und Palästina – in den Grenzen von 1967 – vor, mit gemeinsamer Verfassung und Freizügigkeit, also dem Recht für israelische Staatsangehörige, auch im palästinensischen Staat zu leben, zu arbeiten und Land zu kaufen – und umgekehrt. Man darf sich fragen, wie stabil eine solche binationale Föderation in Zeiten des zunehmend aggressiven Islamismus wäre.

Distanzierung von Yanis Varoufakis

Man darf das auch Boehm fragen. Und er sieht das Problem. Aber er sieht keine andere Lösung. Die Zweistaatenlösung hält er für tot. Und ein komplettes Aufgeben Israels kommt für ihn auch nicht infrage. Den Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ lehnt er dezidiert ab: Das sei nicht die Freiheit, die er meine. Den Judenhass im Gründungsdokument der Hamas müsse man ernst nehmen, betonte er auf dem Judenplatz. Und distanzierte sich auch von israelfeindlichen Aussagen des griechischen Ex-Finanzministers Yanis Varoufakis – dessen Mitwirkung am „Rat der Republik“ der Festwochen kritisiert wird, auch von jenen, die nun gegen Boehm protestieren wollten.

Andererseits erklärt Omri Boehm, Israel reagiere „unproportional“ auf den Hamas-Terror. Sein Ideal der Kriegsführung („Behandle die Zivilbevölkerung der gegnerischen Seite, als ob es deine eigenen Bürger wären“) gleicht seiner Forderung für den Umgang mit den Palästinensern („als ob sie Bürger unseres Landes wären“): Imperative eines Kantianers, den man auch im täglichen Sprachgebrauch einen Idealisten nennen darf. Er weiß, dass sich die Hamas gewiss nicht daran hält. Doch er meint, dass man vom Militär eines Staates mehr Moral verlangen kann als von einer Terrorgruppe.

Über solche Fragen der politischen Praxis sprach Boehm freilich kaum auf dem Judenplatz. Es ging ihm um Grundlegenderes. Er schloss programmatisch an die erste „Rede an Europa“ bei den Festwochen an: US-Historiker Timothy Snyder forderte 2019 von Europa, „mehr als sein eigener Mythos“ zu sein.

Geschichte gegen die Mythen

Wie Snyder sieht Boehm die Geschichte als Widerpart gegen Mythen: Diese seien irrational und „immer national, wenn nicht nationalistisch“, behauptete er. Und Nationalismen lehnt er vehement ab, oft im Namen der Würde, die ihm das heiligste Wort zu sein scheint. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“: Immer wieder zitierte er diesen Satz aus dem deutschen Grundgesetz auf Deutsch in seiner sonst auf Englisch gehaltenen Rede.

Diese – universell geltende – Würde stellt Boehm auch gegen die nationale Souveränität, die zu vermindern er aufruft, in Israel wie auch in Europa. Dieser Kontinent habe „multiple Vergangenheiten“, sagt er: einerseits die Geschichte des Kolonialismus, andererseits – vor allem in Deutschland und Österreich – die Geschichte der Judenvernichtung. Diese beiden Geschichten prallen aufeinander und bedrohen die Einheit Europas, analysiert Boehm. Das meint er mit dem Untertitel seiner Rede, „The Middle East War and Europe’s Challenge“. Sein Rezept dagegen? Wie gesagt: eine Verminderung der nationalen Souveränität.

Keine Holocaust-Relativierung

Boehm war auch vorgeworfen worden, er relativiere den Holocaust. Das tue er nicht, hält er fest: Die Nakba (die Vertreibung der Araber aus Israel) „kann nicht mit dem Holocaust verglichen werden“. Er vergleiche nur die traumatische Erinnerung der Palästinenser an die Nakba mit jener der Juden an die Shoah. Auch das proklamiert er für die „Republik Haifa“: „Es wird gemeinsame öffentliche Gedenkveranstaltungen für den Holocaust und die Nakba geben.“ Auch für die Vertreibung von Juden aus arabischen Staaten? Auf diese Frage reagierte Boehm bei der Pressekonferenz mit Lob an den arabisch-israelischen Knesset-Abgeordneten Ahmad Tibi, der 2010 alle Fraktionen aufforderte, der Shoah zu gedenken, und deren Verharmlosung ein Verbrechen gegen den Geist des Islams nannte.

Ob das 2024 noch möglich wäre? Am Abend des 7. Mai fühlte man ein wenig Hoffnung – gerade weil so viele Besucher, auch Protestierer in ihrer Haltung verunsichert schienen. Und weil man am Ende kaum Zorn auf dem Platz spürte, eher Nachdenklichkeit. Insofern: eine schwierige, aber würdige Rede an Europa.

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