Literatur: Eine Tochter, viele Mütter

Der Residenz Verlag holt mit der Neuausgabe einiger seiner Klassiker Atem für den Neustart: die "Spätlese".

M
it ein wenig Wehmut blickt man auf die schön gestalteten Bü cher, die der Residenz Verlag unter dem Titel "Spätlese" in diesem Herbst wieder aufgelegt hat. Man sinnt an das Editions-Projekt für das Jubiläumsjahr 2005, den "Austrokoffer" und blättert melancholisch in einem der 19 Bücher der "Spätlese". Da ist er ja schon, der Querschnitt durch die österreichische Literatur der vergangenen 50 Jahre, denkt man. Titel von H. C. Artmann, Thomas Bernhard, Alois Brandstetter, Barbara Frischmuth, Reinhard P. Gruber, Peter Handke, Peter Henisch, Franz Innerhofer finden sich in dem "Weißen Programm", dessen Bände auch einzeln (und wohlfeil) erhältlich sind.

Hätte das einstmals renommierteste Verlagshaus für österreichische Literatur nicht allein aus seinen Beständen ein repräsentatives Paket mit den wichtigsten literarischen Werken der Zweiten Republik schnüren können? Der von Wolfgang Schaffler im Jahr nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags in Salzburg gegründete Verlag wurde Ende der Sechzigerjahre zum Sammelbecken der heimischen Literatur.

Als der langjährige Leiter des Residenz Verlags, Jochen Jung, im Jahr 1978 eine Anthologie unter dem Titel "Glückliches Österreich - Literarische Besichtigung eines Vaterlands" herausgab, enthielt der Band 31 Beiträge österreichischer Autorinnen und Autoren, von denen ein Großteil bereits im Haus in der Gaisbergstraße eine Heimat gefunden hatte: Friedrich Achleitner, Gerhard Amanshauser, H. C. Artmann, Rudolf Bayr, Alois Brandstetter, Helmut Eisendle, Barbara Frischmuth, Gertrud Fussenegger, Reinhard P. Gruber, Bernhard Hüttenegger, Franz Innerhofer, Gert Jonke, Alfred Kolleritsch, Andreas Okopenko, Peter Rosei, Jutta Schutting, Hans Weigel und Gernot Wolfgruber. Selbst jene, die nicht bei Residenz publiziert hatten, wie Ilse Aichinger, Gustav Ernst, Erich Fried, Friederike Mayröcker, Christine Nöstlinger, Gerhard Rühm, Hilde Spiel, Peter Turrini, Helmut Zenker und andere, waren für eine solche literarische Landvermessung durch den Salzburger Verlag sofort zu gewinnen.

Offenheit und ästhetische Vielfalt machten die Siebziger- und Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts zu einer Blütezeit der österreichischen Literatur. Die großen deutschen Verlagshäuser blickten begierig in Richtung Untersberg, wenn sie auf der Suche nach Exoten der deutschsprachigen Literatur waren. Der Titel "Residenz-Autor" war inzwischen zum Adelsprädikat geworden, was einige Nachbarn im Norden solcherart Geadelte mit höheren Auflagen von der Salzach an den Main locken ließ.

"Die Ursache", 1975, "Der Keller", 1976, "Der Atem", 1978, "Die Kälte", 1981, "Ein Kind", 1982: in der "Spätlese" jetzt in einer Kassette als Thomas Bernhards "Autobiografische Schriften" zusammengefasst und um 25 Euro angeboten, alle Bände erstmals verlegt bei Residenz. Heute längst zum Kanon der Klassiker der österreichischen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörende Bücher wie Brandstetters "Zu Lasten der Briefträger", Frischmuths "Die Klosterschule", Henischs "Die kleine Figur meines Vaters", Handkes "Wunschloses Unglück", Innerhofers "Schöne Tage", alle in elegante weiße Umschläge gepackt und jeweils mit einer Zeichnung von Walther Schmögner illustriert, präsentiert die "Spätlese" - da kann man schon sentimental werden.

Mitte der Achtzigerjahre, Schaffler hatte den Verlag 1983 an den Bundesverlag verkauft und Jung zu seinem Nachfolger gemacht, ging die Hausse der heimischen Literatur allmählich zu Ende. Residenz streckte seine Fühler über Österreich hinaus aus, ab 1989 auch über den Atlantik. Die inhaltliche Konsistenz ging verloren, das Verlagsprofil wurde immer weniger erkennbar. Nur Walter Pichlers Buchcover suggerierten dem Leser noch eine einheitliche Linie. Der Verlag schlitterte in eine Krise. Zudem setzte Mitte der Neunzigerjahre noch die Konzentrationsbewegung in der Verlagsbranche ein.

Zu viele Mütter verderben das Kind. Anfang 2000 entließ die Konzernmutter Bundesverlag den zu selbstständig agierenden Hofmeister Jochen Jung, um sich Ende 2002 ganz von seinem Kind zu trennen. Die Stuttgarter Klett-Gruppe, die das Literaturmündel nur wegen der strahlend dastehenden Schulbuch-Schwester unter sein Dach genommen hatte, entfremdete sich sehr schnell von dem ungeliebten Kind und übergab es vor knapp einem Jahr an das NÖ Pressehaus in St. Pölten.

Die neue Mutter hat sich nun entschlossen, das noble, aber ausgezehrte Kind erst einmal aufzupäppeln, bevor sie es wieder auf die Straße lässt. Diesem Umstand verdanken wir die "Spätlese". Was diese "Weiße Reihe" allerdings zum Notprogramm hat werden lassen, ist das monatelange Tauziehen um den Standort und die Programmgestaltung zwischen Mutter und Tochter. Eine Perspektive für die Zukunft zeichnete sich lange nicht ab. Erst vor kurzem wurde nun Astrid Graf Programmleiterin des Verlags, der in Salzburg verbleiben wird. Vertrieb und Geschäftsführung werden jedoch von Wien nur bis nach St. Pölten übersiedeln.

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