Bachmann: Tramway-fahren in Dresden

Der Arzt und Autor Uwe Tellkamp gewinnt in Klagenfurt souverän den Bachmann-Preis 2004.

Überzeugendes Votum für einen fast unbekannten ostdeutschen Autor

Das geht ab wie eine Rakete", so Juror Detering über den Siegertext. Damit traf er zwar nicht den lyrischen Ton der mit "Der Schlaf in den Uhren" betitelten Geschichte Uwe Tellkamps, sicher jedoch den Eindruck, den der Text hinterlassen hat. Die Beschreibung einer Straßenbahnfahrt durch Dresden, die sich auf drei Zeitzonen bewegt, überzeugte die Jury so einhellig, dass sie sich mit einer Debatte über den Text sehr schwer tat. So stand ab diesem Zeitpunkt eigentlich fest, wer Klagenfurt mit den 22.500 Euro für den Bachmann-Preis verlassen wird.

Weniger überraschend, dass Arne Roß mit dem Preis der Jury und 10.000 Euro nach Berlin zurückfährt, wo der 1966 geborene Hamburger heute lebt. Burkhard Spinnen kämpfte heftig um den von ihm vorgeschlagenen Autor. In seinem jetzt ausgezeichneten Text "Pauls Fall" schildert er einen alten, vergesslichen Mann auf seiner letzten Lebensetappe. Den 3sat-Preis in der Höhe von 7500 Euro errang nach einem Stechen der von Iris Radisch nach Klagenfurt geholte, in Luxemburg geborene Guy Helminger. Einst Barkeeper in einer Punker-Kneipe, heute Familienvater in Köln, überzeugte er mit einem Text über einen Zwangsneurotiker, der nicht nur das Publikum, sondern ihn selbst zum Lachen brachte.

Mit dem mit 7000 Euro dotierten Ernst-Willner-Preis an die 1964 geborene Berlinerin Simona Sabato avancierte Spinnen zum erfolgreichsten Juror des Wettbewerbs. Auch diese Autorin hatte er vorgeschlagen. Ihr Text ist thematisch mit dem Helmingers verwandt. Auch bei Sabato geht es um eine Zwangsneurose, aber nicht einer einzelnen Person, sondern einer ganzen Welt, die sich "vermüllt". Radisch veranlasste das in ihrer ersten Reaktion, den Romanbeginn als "ganz große Verarschung" misszuverstehen.

Der mit 5000 Euro dotierte Kelag-Publikumspreis geht an Wolfgang Herrndorf. Die Geschichte des Aufeinandertreffens zweier vom "normalen" Leben Enttäuschten führte das heuer beherrschende Thema der Veranstaltung ein: Was ist normal und was ist wirklich? Gibt es noch Fortschritt (in der Kunst) oder ist nicht alles "Diesseits des Van-Allen-Gürtels", so der Titel von Herrndorfs Geschichte. Ein Bub, der gern der 13. Mensch auf dem Mond geworden wäre, verliert jegliche Ambition, als er in einem Buch liest, dass die Mondlandungen nur in Hollywood-Studios stattgefunden haben. Ab diesem Zeitpunkt ist für ihn alles nur noch ein "Fake". Der 1965 geborene Hamburger hat damit zweifellos einen Nerv unserer Zeit getroffen. Das Publikum dankte es ihm.

Die Konkurrenz zu Klagenfurt war erdrückend, im Ablauf jedoch nicht unähnlich: Auch bei der Fußball-EM in Portugal gab es ein Favoritensterben. Es stirbt sich nur an der Algarve viel schöner als am Wörthersee; weshalb die anwesenden Literaturbetriebler nicht nur 3sat, sondern auch andere Sender frequentierten. Auch sonst ließen sich einige Parallelen zum Fußball ausmachen: Wie in Portugal sehr ausgeglichene Mannschaften, so trafen in Klagenfurt relativ niveauvolle Texte aufeinander. Ganz verunglückt war kein einziger. Auch die um die drei neuen Mitglieder, Heinrich Detering, Martin Ebel und Klaus Nüchtern veränderte Jury fand in der zweiten Halbzeit zueinander. Von da an gab es weniger Fehlpasses, dafür mehr Fouls, was dem Spiel gut tat.

Im zweiten Teil des Lese-Marathons wurde es also lebendiger. Dazu trug Tellkamp mit seinem nun preisgekrönten Romanauszug durchaus bei. Er beflügelte die anfangs matte Jury. Nachdem sie ihm einhellig Lob gespendet hatte, wagte sie sich in der Folge auch aus der Deckung und begann zu diskutieren anstatt vorbereitete Statements abzugeben. Zeigte sich Spinnen anfangs davon irritiert, mit Radisch "schon wieder" einer Meinung zu sein, so kam das Match der beiden am dritten Tag so richtig in Schwung. Neo-Juror Nüchtern mischte sich mit nestroyschem Witz in die Debatten ein und gab mit seiner Perspektive von unten und von Osten den unkonventionellen Spieler, den man sich erwartet hatte.

Etwas blasser blieb der Kulturredakteur des "Tagesanzeigers" Martin Ebel. Er fand sich offenbar in der eingespielten Gruppendynamik der schon seit dem Vorjahr am Tisch sitzenden Juroren nicht ganz zurecht. Der neu aufgestellte Heinrich Detering versuchte dem Hickhack auf kleinem Raum durch weite Querpässe zu entgehen, was nicht immer glückte. Insgesamt bot der FC-Literaturkritik heuer eine respektable Leistung, die jener des AC-Literatur kaum nachstand. Und trotzdem bleibt ein Unbehagen.

Offensichtlich war man darum bemüht, die Wichtigkeit des Bewerbs für die deutschsprachige Literatur zu demonstrieren und zu artikulieren. Damit beweist man jedoch, dass es ein Problem gibt. Zu Beginn des dritten Lesetages wollte Iris Radisch einen Trend in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ausmachen: Erzählen aus der Kinderperspektive, die inszenierte Naivität. Ein wenig naiv erscheint auch, wer glaubt, dass von den "Tagen der deutschsprachigen Literatur" noch Impulse ausgehen.

Vom Bachmann-Preis sind Impulse ausgegangen, solange er aufgeregt hat. Heute regt er niemanden mehr auf, nicht einmal die FPÖ. Wenn schon der dieser Partei angehörende Vizebürgermeister Mario Canori den Preis zum "literarischen Botschafter" seiner Kärntner Heimat erklärt, dann ist die Veranstaltung nicht einmal mehr eine "Häschenschule der Erregung" (Radisch). Der Bachmannpreis war von Beginn an eine Art Starmania für literarisch mehr oder weniger interessiertes Publikum. Er war damit bei seiner Gründung 1977 seiner Zeit weit voraus. Nun wurde er von der Zeit eingeholt. Und die hat die Erregung institutionalisiert.

Eine Wiederbelebung wird deshalb kaum durch kosmetische Veränderungen an der medialen Inszenierung der Veranstaltung zu erreichen sein, wie die "FAZ" sie in diesem Jahr vorschlägt (nachdem sie im Vorjahr die Abschaffung gefordert hat). Denn das Problem des Bachmann-Preises ist ein gesellschaftspolitisches, keines der Statuten. Oder geht heute von irgendeinem Starmania-Bewerb ein Impuls für die Popmusik aus? Na eben! Und man hätte es wissen können, was die Kulturindustrie aus der Kunst macht: Schlag nach bei Adorno.

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