Literatur

Christine ­Vescoli: Ein letztes Mal flicht die Mutter die dicken Zöpfe

Die Mutter fand ­„nie eine Sprache mit Gott“.
Die Mutter fand ­„nie eine Sprache mit Gott“.Privat
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„Mutternichts“ von Christine ­Vescoli ist ein außergewöhnliches Prosadebüt in lyrisch-rhythmischer Sprache – und plötzlich steht sie da, die Mutter.

Als die Mutter vier Jahre alt ist, bringt man sie fort; fort von Mutters Mutter, die ihr noch ein letztes Mal die dicken dunklen Zöpfe flicht, ihre Schuhe mit Spucke einreibt „für einen gemogelten Glanz“; fort von Vater, dem „heiligen Vater“, der sie aufklaubt und wegträgt, und dessen „Vaterhand“ keine ist, weil Vater „der Wind“ ist, der nicht hält und der die Dinge verträgt, Dinge wie Menschen wie die Zeit, die mit ihm geht und alles fortwischt, „die Zeiger der Uhr werden vorgerückt sein (…) und meine Mutter wird zur Tür hinausgegangen sein“; fort von den Geschwistern, dem kleinen Bruder, der bald nach seiner Geburt vielmehr die Finsternis erblickt als das Tageslicht, weil er die Abscheulichkeit, die das Leben in Gestalt der Krankheit schickt, in einer Holzkiste liegend ertragen muss, von Missbildung und Schmerz gekrümmt und nicht fähig, Ärmchen und Beinchen ihrer eigentlichen Bestimmung zuzuführen.

Ein Bündel Mensch

Mutter kann laufen, doch ihre schmalen Beine sollen sie fortan ins Verschwinden tragen, Beine, die so schmal sind wie Stecken, weil der Hunger sich wie ein schweres, alles verdunkelndes, gefräßiges Tuch über die Täler legt und ihnen die Substanz raubt; Täler, in und um die herum der Krieg tobt und der Nazi-Führer, der die Menschen auf den Feldern verbrennt und in den Lagern, und der sie dazu anstiftet, sich gegenseitig zu erdniedrigen – eine bejubelte Misanthropie „abgeschaut von den Nazis“. Ein Erniedrigtwerden ist die Mutter, ein Fortgehen, ein Nirgendwoankommen, ein Über­flüssigsein. Geboren in einem kalten April 1940 in einer dampfenden Kammer, auf einem Südtiroler Bauernhof, aus einem dampfenden Leib, der „aufbrach wie Brot und meine Mutter in Blut und den auf- und niedersteigenden Wellen in die Welt hinausschob“ – in eine Welt, in der dieses Bündel Mensch nur wenige Kinderjahre später zur „Dirn“ wird, zur Bauernmagd, zur Heimatlosen ohne Koffer, geplagt von Heimweh und der Bürde, brav und unsichtbar zu sein, wie von der Angst vor dem Nichts, an das man sie band wie Christus ans Kreuz.

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