Über die „kriminellen“ Häftlinge in KZs kursierten viele Mythen, Forschung über sie gab es kaum. Ein neues Buch füllt diese Lücke. Rechtzeitig zur politischen Anerkennung als Opfer.
Es ist eine symbolische Geste. Und eine längst überfällige. „Kriminelle“ KZ-Häftlinge werden künftig als NS-Opfer anerkannt. Vergangene Woche haben ÖVP, Grüne und SPÖ einen entsprechenden Initiativantrag zur Novellierung des Opferfürsorgegesetzes im Nationalrat eingebracht. Symbolisch, weil davon ausgegangen werden muss, dass es mittlerweile keine Überlebenden mehr gibt.
Einer, der den schwierigen Anerkennungsprozess begleitet hat, ist Andreas Kranebitter. Er habe „fast nicht mehr geglaubt, dass das in dieser Legislaturperiode noch etwas wird“, so der Soziologe und Politikwissenschaftler, der das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) leitet. Er ist den Biografien von 885 österreichischen „Berufsverbrechern“ des KZ Mauthausen (insgesamt machte die Gruppe 2,4 Prozent der Lagergesellschaft aus) nachgegangen, um davon ausgehend die Konstruktion von Kriminellen im Nationalsozialismus zu untersuchen. Die Ergebnisse seiner Forschungen sind kürzlich als Buch erschienen und erlauben es, die Geschichte der Konzentrationslager aus einer bisher wenig beachteten Perspektive zu betrachten.
Vorbestrafung war Haftgrund
„Gerade die Interviews mit Angehörigen von im Nationalsozialismus als ,Berufsverbrecher‘ etikettierten und in Konzentrationslager verschleppten Personen haben mir das mit ihnen verknüpfte NS-Unrecht bewusst gemacht“, sagt Kranebitter. „Das Nachdenken über die Konzentrationslager muss über die binäre Opfer-Täter-Kodierung hinausgehen.“ Das dürfe jedoch nicht mit der Verwischung der Grenze zwischen Opfern und Tätern verwechselt werden. Die Herausforderung bei der Opfergruppe der „Berufsverbrecher“ sind die Grauzonen und Ambivalenzen. Wichtig sei es allem voran, den fundamentalen Unterschied zweier Gruppen innerhalb der KZ-Gesellschaft anzuerkennen: die zum größten Teil freiwillig anwesenden Bewachenden und die dorthin deportierten „Insassen“.
Kranebitter räumt mit vielen Mythen auf, die sich um die „Berufsverbrecher“ ranken. Etwas, das selbst in Fachkreisen falsch wiedergegeben wird: „Die ,Kriminellen‘ waren nicht von regulären Gerichten zur KZ-Haft verurteilt worden, sondern wurden ausschließlich wegen ihrer Vorstrafen oder nach verbüßter Strafe als ,Berufsverbrecher‘ etikettiert und in Konzentrationslager deportiert.“
Eine andere vorherrschende Erzählung lautet, dass die „kriminellen“ Häftlinge – sie mussten den grünen Winkel am Hemd tragen – im KZ Mauthausen aufgrund ihrer Korruptheit und Brutalität von der SS als Handlanger („Funktionshäftlinge“, „Kapos“) benutzt wurden, um ihre Mitgefangenen stellvertretend für die Nazis zu terrorisieren. All dies sei ihm selbst lang plausibel erschienen, so Kranebitter – bis das Aktenstudium für Irritation gesorgt habe: Er fand „kriminelle“ KZ-Überlebende, die von Widerstandshandlungen berichteten. „Widerstand im Lager hat bedingt, mitzumachen, um nicht mitzumachen“, stellt der Wissenschaftler mit Blick auf gegenwärtige moralische Vorstellungen fest, die der Realität in Konzentrationslagern nicht gerecht würden.
Von Behörden stigmatisiert
Eine der Biografien, die der DÖW-Leiter in seiner Publikation bearbeitet, ist jene des Wiener Schlossers Georg Binder – vor 1938 fünfmal gerichtlich wegen Diebstahls verurteilt. Bei der Befreiung des KZ Mauthausen im Mai 1945 hat er sechs Jahre Haft hinter sich. Zuletzt wurde er als Kapo der Waffenkammer eingesetzt. Er soll sich nach eigenen Angaben an mehreren Widerstandsaktionen beteiligt haben. Nicht alle – wie die Vergiftung einer Dogge, die regelmäßig auf Häftlinge gehetzt wurde – lassen sich heute belegen. Bestätigt ist, dass Pistolen und Handgranaten aus der Waffenkammer an den lagerinternen Widerstand gegangen sind und dass „ein gewisser Binder, Krimineller aus Wien“ (Hans Maršálek, KZ-Chronist), dem politischen Widerstand geholfen hat, dem Tod geweihte Neuzugänge zu retten.
30 Zeugen hatte Binder den Behörden genannt, sie zu befragen, wurde versäumt. Im Nachkriegsösterreich blieb er von der Anerkennung nach dem Opferfürsorgegesetz ausgeschlossen, von Opferverbänden wurde er als Mitglied abgelehnt. Das Stigma „Berufsverbrecher“ überdauerte das NS-Regime.
Andreas Kranebitter
„Die Konstruktion von Kriminellen“
New Academic Press
448 Seiten
30,50 Euro