Gastkommentar

EU-Reformen: Wo die Schweiz ein Vorbild sein kann

Einwurf. Eine an Haupt und Gliedern reformierte europäische Konföderation könnte sich wirklich eine Demokratie nennen.

Vor EU-Wahlen wird regelmäßig geklagt, innenpolitische Themen würden anstelle von Europathemen gespielt. Sehen wir einmal vom grünen Ibizagate um eine charakterlich überforderte Spitzenkandidatin als Randthema ab, so wird diesmal dem Wähler in Österreich vorbildlich eine reiche diskussionswürdige Auswahl an Europakonzepten angeboten: Die Neos plakatieren „die Vereinigten Staaten von Europa“. Die SPÖ fordert mit EU-weiten Kinderrechten, Wohnbauprogrammen und Mindestlöhnen noch mehr Kompetenzen für Brüssel. Die ÖVP will beim Green Deal ihrer nirgendwo wählbaren Kommissionspräsidentin von der EVP löblich, aber wenig glaubwürdig wieder entbürokratisierend zurückrudern. Die Grünen den Green Deal noch weiter verschärfen. Die FPÖ fordert die Halbierung von Kommission und Parlament. Tatsächlich verlangt der Vertrag von Nizza (2001) eine Verminderung der Kommission auf zwei Drittel der Mitgliedstaaten, also von derzeit 27 Kommissaren auf 18 – eine Vorschrift, die Rat und Kommission bisher souverän ignoriert haben.

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Dabei würden nach Schweizer Muster sieben Kommissare als Exekutive, deren Spitze ebenfalls alljährlich zur Vermeidung des aktuell sichtbaren Cäsarenwahns rotieren würde, für europäisch-föderale Kernaufgaben völlig genügen. Warum? Die historische Entwicklung der EU hat sich mit der funktionalen Methode Jean Monnets nie an föderale Konzepte gehalten, noch die historischen Erfahrungen der Schweizer Eidgenossenschaft seit 1291 oder der Vereinigten Staaten seit 1776 berücksichtigt. Es wurden nie (kon-)föderale Kernaufgaben, als da sind ein defensives Schutz- und Trutzbündnis, der Grenzschutz, eine Zollunion, die Außenwirtschaftspolitik, der Binnenmarkt, der Verbraucherschutz und der Wettbewerb, sauber definiert. Stattdessen wurde Vertrag um Vertrag, Ministerrat um Ministerrat, Kompromiss um Kompromiss im blinden Streben nach „mehr Europa“ von der Agrarpolitik, der Regional- und Kohäsionspolitik bis zu den aktuellen Mega-Schuldenprogrammen und dem Green Deal ein Wust an überregulierenden Umverteilungsprogrammen mit polit-bürokratischem Ewigkeitswert installiert, der mit einem rationalen föderalen System wirklich nichts mehr zu tun hat. Landwirtschaft, Fischerei, Regionalentwicklung, Entwicklungshilfe, Soziales, Bildung, Kultur, die Rechtsordnung, Steuern, Gesundheit, plus die Rettung des Planeten durch den Green Deal – all dies sollte Brüssel nichts mehr angehen, sondern nach dem Subsidiaritätsprinzip national, regional und lokal besser geregelt werden.

Natürlich wird die bisherige EU-Subventionsindustrie von den Dauerempfängern im Mezzogiorno, den NGOs bis zu den Baulöwen des Balkans Zeter und Mordio schreien. Geschenkt. Tatsächlich beträgt in Österreich die Rückflußquote 60%, ähnlich wie die Ausschüttungen der Lotterien oder der Spielhöllen von Novomatic. Rubellose zu kaufen ist also ähnlich intelligent. Da wo grenzüberschreitende Infrastruktur sinnvoll wäre, hat die EU einigermaßen versagt: bei der Harmonisierung der Eisenbahnnetze, der Flugsicherheit und der Schaffung europäischer Pipelinesysteme und Stromnetze. Es war eben leichter, Glühbirnen und Plastikstrohhalme zu verbieten.

E basta così

Die Gründerväter der US-Verfassung hatten seinerzeit den Untergang der Römischen Republik als abschreckendes Beispiel im Sinn: Deshalb schufen sie neben dem Kongress eine machtvolle präsidiale Exekutive und Judikatur. Nach zwei Weltkriegen, dem New Deal der 1930er-Jahre, den Sozialprogrammen der 60er und der Homeland Security ab 2002 ist die Washingtoner Bürokratie freilich abschreckend genug. Zudem bilden die historisch gewachsenen europäischen Kulturnationen kein einheitliches Staatsvolk wie die USA. Deshalb die seit 1291 erprobte Schweizer Eidgenossenschaft als Reformvorbild: Sieben Bundesräte (Kommissare) zuständig für (1) Außen- und Außenwirtschaftspolitik und Zölle, (2) den Binnenmarkt und Verbraucherschutz, (3) den Wettbewerb – Beihilfen, Fusionen, Absprachen, (4) Europäische Netze – Energie, Eisenbahn, Telekom, Luftsicherheit, (5) Makroökonomie und Währung (Euro-Nord und Euro-Süd), (6) Verteidigung und Grenzschutz, und (7) Soziale- und Umweltmindeststandards. E basta così. Nach der „Zauberformel“ der Schweizer Konkordanzdemokratie stellen die drei größten Parteienfamilien des EP regional ausgewogen je zwei Kommissare, die vierte einen.

Statt des präpotenten, ewig zerstrittenen EU-Ministerrates entscheidet ein gewählter Ständerat (ähnlich wie der US-Senat) mit zwei Mitgliedern pro EU-Staat mit 200 bis 300 proportional gewählten Abgeordneten des heutigen EP. Beide Kammern wählen wie in der Schweiz auch die Richter des EuGH, die Verwaltungsspitze der verschlankten Kommission und den Generalstabschef. Das Einstimmigkeitsprinzip wäre in einem solchen bikameralen System natürlich kein Thema mehr.

Eine somit an Haupt und Gliedern reformierte europäische Konföderation könnte sich erstmals mit Fug und Recht eine Demokratie nennen. Sie hätte weiters den Vorteil für die Briten, Norweger, Isländer und nicht zuletzt auch Schweizer, wieder attraktiv zu werden. Eine solche „EU neu“ wäre auch für korruptionsbefreite Westbalkanländer, die Ukraine, Moldawien, ein demokratisiertes Belarus und post-Putin möglicherweise auch Russland selbst problemlos erweiterungsfähig. Gorbatschows und Prodis Vision eines gemeinsamen europäischen Hauses „von Lissabon bis Wladiwostok“ könnte anstelle des aktuellen Albtraums so doch noch Realität werden.

Dr. Albrecht Rothacher (*1955 in Erlangen) ist pensionierter EU-Diplomat. Jüngst erschien eine dreibändige Sammelbiografie der österreich. Bundeskanzler (Gerhard Hess Verlag).

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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