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Pop: Punks in der Disco

Tanzverbot und die Folgen: US-Bands trauen sich mit der Gitarre auf den Dancefloor - sind aber deutlich kompromissbereiter als ihre Vorgänger der Post-Punk-Ära.

Zu den neuen Alben von "!!!" und "Radio 4"

Der Hardcore-Chefideologe Ian MacKaye könnte sozusagen anti thetisch zu einer der spannends ten Strömungen im aktuellen Popgeschehen beigetragen haben: Er pflegte Anfang der Neunzigerjahre Konzerte seiner Band Fugazi zu stoppen, um das erregte Publikum zu beruhigen. Seine Aufrufe zur gegenseitigen Rücksichtnahme wurden allerdings missinterpretiert: als Aufforderung, jede ausgelassene Bewegung einzustellen. Tanzen inklusive.

Es folgten Jahre der Disziplin bei Auftritten von Punk- und Hardcore-Bands: "Es wurde von einem erwartet, ruhig dazustehen und dem Treiben auf der Bühne respektvoll zu folgen", klagt John Pugh. Er ist Drummer bei !!! (sprich "Chk Chk Chk"), neben The Rapture und Radio 4 eine jener seit gut ein, zwei Jahren angesagten Bands, die mit ihrer Musik heftige Tanz-Attacken auslösen wollen. Sie klingen elektrisierend, aufgekratzt, oft ungestüm. Ungefähr wie eine Horde Punks, die die Disco stürmt und ihre Gitarren direkt ans Mischpult des DJs stöpselt. Das Etikett für die in einem losen Netzwerk agierenden Bands war rasch gefunden, in einem alten Gegensatzpaar: Disco-Punk. Formale Bestandteile ihrer Musik: auf den Punkt gezupfte Bässe; scharf angeschlagene Gitarren; Rhythmen im Zeichen der Discokugel; bisweilen sogar Congas.

Die siebenköpfige Truppe !!! ist die prototypische Band der Bewegung: Sie entsprang 1997 der Fusion zweier Formationen. Eine spielte Punk, die andere Coverversionen von Disco-Klassikern. Ihr aktuelles Album "Louden Up Now" ist geprägt von beidem: Die Songs, die das Dreiminuten-Format des Popsongs gleich zwei- oder dreimal sprengen, entwickeln einen hypnotischen Sog. Und gipfeln oft in purer Ekstase.

Ursprünglich im kalifornischen Sacramento beheimatet, zog die Band in die Disco-Hauptstadt New York. Um dort festzustellen, dass Bürgermeister Rudy Giuliani das Nachtleben beschränkte und vielerorts das Tanzen schlichtweg verbot. Ihre Antwort: "Me and Giuliani Down by the School Yard (A True Story)" (Variation eines Paul-Simon-Songtitels), eine bittere Abrechnung mit Giuliani, ihre bis dato stärkste Nummer.

Auch das zentrale Stück der Brooklyner Band Radio 4 ist nicht zuletzt den restriktiven Partygesetzen Giulianis zu verdanken: "Dance to the Underground", 2001 als Maxisingle erschienen, wanderte nicht nur in die Plattenkiste vieler DJs, sondern propagierte Tanzen als politischen Akt. "Es ist ein Protestsong. Es geht darum, dass die Leute rausgehen und ihr Ding machen sollen. Ohne Rücksicht darauf, was die Regierung sagt oder die große Masse vorgibt", erklärt Sänger Roman Anthony.

Ihr neues, drittes Album "Stealing of a Nation" zeigt, dass sich Radio 4 nicht nur musikalisch auf die Post-Punk-Ära berufen, sondern auch den politischen Spirit von Bands wie Gang of Four, The Pop Group oder The Clash weiterleben lassen: Der Titel bezieht sich auf den Irakkrieg und George Bushs umstrittenen Wahlsieg im Jahr 2000, im Song "No Reaction" kulminiert die Unzufriedenheit mit der Regierung. Anthony: "Die Leute erheben ihre Stimme, aber die Bush-Administration reagiert nicht. Wir wissen, dass sie die Menschen auf der Straße hört. Aber sie gibt es nicht zu."

Dieses Album markiert für die Band, vielleicht für die ganze Bewegung, einen Wendepunkt: Der raue, rohe Sound weicht einer fetten Produktion, alles klingt irgendwie massentauglicher. Neben Tanzboden-Krachern und Dub- und Reggae-Einsprengseln rückt immer öfter in den Mittelpunkt, was bisher kaum Priorität hatte: eingängige Melodien, traditionelles Songwriting. "Wir wollten uns nicht auf sich wiederholende Dance-Riffs beschränken", so Anthony. Versicherung für die Zeit nach dem Hype? Vielleicht. Ihre Vorfahren bauten nicht so vor: Viele der Bands, die um 1980 Punk und Disco kollidieren ließen, verschwanden nach ein, zwei kompromisslosen Alben wieder in den Straßen von Manhattan.

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