Bilder über Babylon und Europa

Marc von Hennings "Die Erfindung des Lebens" wurde bei den Wiener Festwochen uraufgeführt. Bildertheater, das sich nur langsam erschließt.

Christoph Marthalers Ästhetik greift um sich: In einem weitläufigen Zug oder Wartesaal sitzen Passagiere. Hinter großen Fenstern fliegt eine wechselnde Landschaft vorbei: Bäume, Meer, Wolken, dazu ertönen Zuggeräusche, ratternde Räder, das Rauschen, wenn die Lok in einen Tunnel fährt.

Ist der Zug ein Raumschiff? Ein betrunkener (oder reisekranker) Schaffner torkelt herum, ein alter Herr wird von einer Dame mit Zigarette angeflirtet und nähert sich seinerseits einer Frau in viktorianisch anmutender Hausmädchentracht. Einer springt plötzlich auf die Gestänge, später hat er blutige Hände.

Ein anderer packt einen Topf mit einer Hortensie aus, der Blumenkopf ist abgeschlagen. Eine Frau wirft Geld in den Süßigkeiten-Automaten und nimmt eine Brille heraus. Der alte Mann deklamiert Homer. Immer wieder bleibt der Zug stehen. Leute verschwinden in einer Kabine hinter dem Automaten, kommen wieder heraus. "Das älteste Geräusch auf der Welt" heißt Teil I des theatralischen Triptychons Marc von Hennings. Die Kreation des Briten wurde als Kooperation mit dem Stuttgarter Staatstheater am Mittwoch abend bei den Festwochen in der Reithalle Wien 3 uraufgeführt. Diese Entdeckung Karl Welunscheks (Rabenhof) bewährt sich. Besonders in diesem Bühnenbild (Bühne, Kostüme: Herbert Murauer, Ralph Zeger). Eher öde, epigonal wirkt dagegen im ersten Teil das Geschehen.

Teil II findet im hinteren Bereich der Halle statt und besteht aus einer Schulstunde. Das Publikum sitzt an Pulten und schreibt eine Ansage: Heiner Müllers klaustrophobischen "Traumtext" (1995). Dieser Akt heißt dementsprechend "Traumstunde". Nach dieser Übung ist wohl bei manchen Gästen das Urteil über die Aufführung gesprochen gewesen: sehr mühsam.

In Teil III dominieren neuerlich der Raum, das Bühnenbild: Hinter den offenen Bögen kreuzen Ballons und hölzerne Vögel, gemahnend an eine Zeitreise oder an Löcher in der Atmosphäre.

Ein junger Mann schreibt einen Brief an seine Familie - nach Motiven von Franz Kafkas "Stadtwappen" über den Bau des Turms von Babylon. An einem Tisch sitzt ein zweiter junger Mann, der die Psychokrise des Briefschreibers illustriert. Immer wieder zündet er sich nicht vorhandene Zigaretten an, hinter ihm häufen sich in einem Kübel Streichholzschachteln.

Streichholzturm brennt

Vor ihm steht ein Streichholzturm, den er schließlich in Brand setzt. Nun erscheinen die Boten, Vater und Tochter, die den Brief befördern sollen, nebst einem Gemälde mit dem "Babylonischen Turm" (Breughel). Die Boten sprechen eine Phantasiesprache. Der junge Mann ist Übersetzer und spricht alle Sprachen. Teil III mit dem Titel "Brief an die Familie" ist am besten gelungen und relativiert die Enttäuschung, die sich in den Episoden davor breit gemacht hat.

Man denkt an die Unbehausten dieser Welt, die Parallelen zwischen Babylon und Europa, die Integration durch gemeinsame wirtschaftliche Ziele, die vielleicht eine (alte) Illusion ist - und an die Symbolik von Großprojekten, die Generationen in Anspruch nehmen, Menschen "verschlingen": "Die Kunstfertigkeit steigert sich immerfort - und damit die Kampfsucht." (Kafka).

Man denkt aber auch an das Risiko, das die Festwochen mit ihrer Einkaufspolitik eingehen, mit Koproduktionen, bei denen das Festival zahlt, aber wohl wenig zu reden hat und die sich nicht im voraus checken lassen. Die Konsequenzen hat das Publikum zu tragen.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.