Erinnerung, Traum, Mythen gegen die Flut

"Nunaki" vom Wiener Serapionstheater im Odeon: Entzückend, überraschend, erschreckend, inspiriert.

Mesopotamien: Wiege der Zivilisation, Ausgangspunkt der neuen Kreation des Serapionstheaters. Einen hohen Ort, eine Insel bezeichnet das sumerische Wort "Nun a ki". Über die wolkigen Ankündigungen seiner Stücke muß sich Odeon-Prinzipal Erwin Piplits derart geärgert haben, daß er diesmal genau erklärt, worum es ihm geht: um die Eingeschlossenheit des Menschen in seiner Existenz und um Mythen, deren ursprüngliche Bedeutung uns entschwunden ist, die aber dennoch das Leben durchdringen. Das klingt nach bekannten Serapionstheater-Konzepten - und kaum verändert ist auch die Ästhetik des Hauses, der freilich ein Inspirationsschub neuen Glanz sichert.

Eine Frau, in abgerissener Kleidung, schleicht zu anschwellendem Trommeln über die Szene, eine Wandererin mit (Krück-)Stock, eine Trauernde aus dem Heer der Flüchtlinge. Ein Schwarm Menschen wird auf die Bühne geweht. Sie sammeln sich in wechselnden Formationen auf einem Rechteck in der Mitte. Feiern Sie ein Fest? Ihre Stöcke sind kultisch geritzt, aber aus Metall, nicht aus Holz, ihre Kostüme muten nahöstlich an. Wortfetzen dringen ans Ohr, spanische, italienische, englische. "What's here?" "Where are You?", schreit eine, "La luna", "Pace", "Conosco". Ein Hubschrauber knattert fern.

Ein Platzregen überflutet den Raum um das Rechteck im Nu. Die Fliehende versucht das Rechteck zu erklimmen, rutscht aber immer wieder ab, weint und schreit. Die Tänzer sind auf ihre Stöcke geklettert. Wie Vögel hocken sie da, geben ebensolche Laute von sich. Das Wasser murmelt, ein Tropfen zeichnet stetig neue Ringe in die Flut. Eine an einen Markt erinnernde Szene. Eine Frau facht Feuer an, ein rotes Tuch in Händen. Sie lamentiert. Ein Mann zeichnet aus weißem Pulver Figuren.

Das flüchtige Wesen scheint, irgendwie erlöst, Zeichnungen unter Wasser und an den Wänden zu erforschen. Es flüstert auf eingebildete Gestalten hin oder mit sich selbst. Am Ende löst sich alles in einem merkwürdigen Tanz, die Darsteller erzählen mit großer Lebhaftigkeit. Zu wem sprechen sie? Nicht zueinander. Für wen tanzen sie? Nicht miteinander. Auf der Wand im Hintergrund wird ein gewaltiges, aus starken Farben komponiertes Gemälde sichtbar, durch das die Flut schimmert.

Um das von Ulrike Kaufmann mit der ihr eigenen Expressivität gestaltete "Wesen", welches sich aus seiner Entrechtung, Heimatlosigkeit, seinem namenlosen, stillen Elend löst in Visionen von einer anderen Existenz, kreist diese Aufführung. Aber auch das multikulturelle Ensemble (Kostüme: Kaufmann) trägt viel zum starken Eindruck bei.

Was sich hier abspielt, ließe sich auch anders als intendiert lesen und sehen. Das Fest der (bunten) Vögel ist an einem Endpunkt angelangt, die Flut steigt und die Arche Noah hat keine Touristenklasse. Auf den Flügeln des Fortschritts ist der Mensch in die Moderne entschwebt, an seinen bloßen Füßen aber blieben wie in der Aufführung kleine, weiße Paketchen, die rhythmisch klacken, ein Code, ein Chip, ein Herz, eine energetisch oder verderblich strahlende Erinnerung? Vermutlich beides. Starker Applaus belohnte diesen phantasievollen Streifzug.

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