Tschechien: Verblassende Erinnerung an Prag '68

(c) AP
  • Drucken

Zeitgeschichte. Tschechiens Öffentlichkeit beschäftigt sich nur wenig mit der brutalen Niederwalzung des „Prager Frühlings“ durch den Warschauer Pakt vor 40 Jahren.

PRAG. Ein Land im Ausnahmezustand: Kollektiv sitzen Tschechen und Slowaken 1969 vor den (Schwarzweiß-)Fernsehgeräten. In Schweden läuft die Eishockey-Weltmeisterschaft. In der Vorrunde trifft die Tschechoslowakei auf die UdSSR. Das Spiel endet mit einem Sieg der Cracks aus Prag, Pressburg, Iglau oder Trencín.

Der Jubel ist grenzenlos. „Wir hatten es den Russen gezeigt“, erinnert sich David Kolar, ein Prager Rentner, heute noch mit Tränen in den Augen an diesen Moment. „Ich konnte zum ersten Mal wieder richtig fröhlich sein. Zum ersten Mal seit dem August 68, als der Warschauer Pakt mit den Sowjets an der Spitze bei uns einmarschiert war und den Prager Frühling unter Panzerketten begrub.“

Der Einfluss der Altkommunisten

Selten in der Geschichte hat ein sportlicher Erfolg wie in diesem Eishockeyspiel ein ganzes Land derart in einen Rausch der Freude und Genugtuung versetzt. Und selten hatte ein sportlicher Wettkampf auch solch einen politischen Charakter.

„Wenn wir heute gegen die Russen spielen, dann ist das kein Duell mehr um Prestige oder Rache“, winkt Oldrich Tuma ab. Der Direktor des Prager Instituts für Zeitgeschichte sagt das mit Erleichterung und Gleichmut. „Das Verhältnis der Tschechen zu den Russen ist 40 Jahre nach dem Prager Frühling zwar noch längst nicht wieder normal; wir werden immer einen kritischen Blick auf das haben, was in Moskau passiert. Aber von aufgeheizter Atmosphäre kann keine Rede mehr sein.“

Tuma weiß, wovon er spricht. Das Schicksalsjahr 1968 gehört zu den Themenschwerpunkten seines Hauses. Jetzt, da es sich zum vierzigsten Mal jährt, wird der Direktor häufiger als sonst auch von Journalisten angesprochen. „Es sind aber vorrangig ausländische Berichterstatter. Die fragen nicht nur, sie wissen vielfach auch genauer Bescheid als ihre tschechischen Kollegen über die Dinge, die damals bei uns passiert sind. Tschechische Zeitungen unterliegen zunehmend der Boulevardisierung. Mit 1968 aber macht man keine Schlagzeilen mehr.“

Es nimmt auch nicht Wunder, dass Tuma und viele andere tschechische Spezialisten für 1968 diese Woche zu einer großen Konferenz fahren – und zwar nach Wien. In Prag wäre eine solche Veranstaltung heute kaum noch möglich. Die Erinnerung der Tschechen an den Prager Frühling verblasst.

Die Ursachen dafür sind vielfältig. „Eine Ostalgie wie in der DDR, wo man mit lockeren Filmkomödien über die tragischen Kapitel der Geschichte hinweggeht, kann sich Tschechien nicht leisten“, sagt etwa Tomas Kafka vom tschechischen Außenamt. Er sieht einen der Gründe dafür darin, dass sich die tschechischen Altkommunisten bis heute nicht reformiert haben und nach wie vor eine wichtige Rolle spielen.

Wie Recht Kafka damit hat, zeigten die Genossen gerade erst bei der Bewertung des Februar-Putsches von 1948. Wütend attackierten sie da diejenigen, die die damalige Machtergreifung der Kommunisten unter Klement Gottwald als das benannten, was sie war: als einen Umsturz unter scheindemokratischem Mäntelchen. Anders als die Leute in der DDR, so Kafka, würden sich viele Tschechen heute auch für die kommunistische Diktatur schämen.

Das große Schweigen

Scham und Trauer über eine Niederlage sind aber auch der beste Nährboden für großes Schweigen. Fragt man heute junge Tschechen, was ihre Väter und Großväter über 1968 erzählen, erntet man zumeist nur ein hilfloses Schulterzucken: „Nichts.“ Und die Schule ist auch keine große Hilfe.

Entsprechend sehen die Kenntnisse über den Versuch aus, dem Sozialismus ein menschliches Antlitz zu geben. „Alexander Dubcek? Oh, Moment, war der nicht Eishockeytrainer?“, orakeln halbwüchsige Prager in TV-Umfragen.

Doch auch manche Redakteure wissen es nicht besser. Als sich im Jänner der Tag der grauenvollen Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach auf dem Prager Wenzelsplatz 1969 jährte, hörte und las man immer wieder, Palach habe gegen die Besatzung des Landes durch die Russen ein Zeichen setzen wollen. Stimmt nicht: Palach sah seine furchtbare Tat vielmehr als Fanal an, um seine Landsleute aus der Lethargie zu rütteln, in die sie sich schnell geflüchtet hatten.

Erschwert wird die Auseinandersetzung über 1968 heute auch dadurch, dass die herrschenden Konservativen das Ereignis als „bloßen Machtkampf innerhalb der damaligen KP-Führung“ abtun. Gezielt. Es soll niemand auf die Idee kommen, sich der Ideale und Werte von damals etwas genauer zu erinnern.

Freilich negiert man damit auch, dass es viele Organisationen „von unten“ gab, die viel weitergehende Ziele als die damaligen Reformkommunisten hatten. Einige dieser Organisationen waren wiederum der Ausgangspunkt für die Entstehung von Bürgerrechtsbewegungen wie der „Charta 77“.

Ein besonderes Kapitel ist das politische Verhältnis der Tschechen zu den Russen heute. Oldrich Tuma erzählt, dass russische Historiker mittlerweile zwar „normale“ Gesprächspartner seien. Aber den Widerstand 1968 würden sie bis heute nicht begreifen. „Seid ihr nicht auch Slawen?“, werde da schon mal gefragt.

„. . . noch immer Einflussgebiet“

Erschreckend für viele Tschechen ist, wie Moskau auf die Pläne der USA reagiert, in ihrem Land eine Radarstation zu errichten, die gemeinsam mit Raketen in Polen mögliche Angriffe von „Schurkenstaaten“ verhindern soll. Wladimir Putin kündigte an, Tschechien ins Fadenkreuz russischer Raketen zu nehmen. Und Putins Nachfolger Dmitrij Medwedjew denkt keinen Deut anders. Prags Außenminister Karl Fürst Schwarzenberg nennt es beim Namen: „Russland betrachtet unser Land noch immer irgendwie als sein Einflussgebiet.“ Derlei irritiert die Tschechen.

1968 liegt weit zurück. Die Tschechen haben heute andere Probleme. So sie nicht Historiker sind oder Leute wie David Kolar, die die Erinnerung an den August nicht einfach so ins Grab mitnehmen. Aber die Kolars werden weniger.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2008)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.