Die Schweizer stimmen gegen mehr Gehalt und mehr Urlaub: Spinnen sie?
Wer möchte eine sechste Urlaubswoche in Österreich? Wer würde gern mindestens 3300 Euro brutto pro Monat verdienen? Fragen wir das Volk, und wir können davon ausgehen, dass in Österreich vielleicht nicht 100 Prozent, aber wohl über 90 Prozent mit Ja stimmen würden.
Und die Schweizer? Sie lehnten gestern mit einer Mehrheit von fast 80Prozent die Einführung eines Mindestlohns von 4000 Franken pro Monat ab. Vor zwei Jahren stimmte ebenfalls eine deutliche Mehrheit (67Prozent) gegen die Erhöhung des Mindesturlaubs von vier auf sechs Wochen. Bei solchen Ergebnissen stellt sich vor allem eine Frage: Spinnen die völlig, die Schweizer?
Oder vielleicht doch nicht? Führt Masse in der Schweiz möglicherweise nicht zur Verdummung, sondern zur Schwarmintelligenz?
Die Menschen verstehen offensichtlich, dass 4000Franken Mindestlohn vielleicht in Basel zum Überleben notwendig sind – und dort von H&M und Lidl auch bereits bezahlt werden –, aber sicher nicht im vergleichsweise billigen Kanton Thurgau. Welche Motivation gibt es außerdem für Jugendliche, sich weiterzubilden und hart zu arbeiten, wenn man schon als ungelernte Hilfskraft ein ordentliches Gehalt bezieht? Wie weit müssten Gehälter für Spitzenkräfte angehoben werden, um ein Verhältnis in der Entlohnung zu wahren und ihre Motivation zu garantieren? Und würde nicht ein solcher Mindestlohn zu mehr Schwarzarbeit und höherer Arbeitslosigkeit führen, weil sich Stellen nicht mehr rentierten?
Die Schweizer hatten diese Probleme offenbar alle bedacht, bevor sie am Sonntag zu den Urnen schritten. Spinnen offenbar doch nicht so, die Schweizer.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2014)