Ringstraßenära: Gab es je ein schöneres Jahrzehnt für Wien?

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In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich Wien zu einer modernen Großstadt. In grenzenlosem Fortschrittsoptimismus wurde die Stadt zur Monumentalbühne einer Gesellschaft im Auf- und Umbruch.

Am 1. Mai 1865 hatte Wien Grund zur Freude: Zur Feier des Tages schenkte Kaiser Franz Joseph seiner Residenzstadt das Quellgebiet am Schneeberg für den Bau einer Wasserleitung. Gefeiert wurde der Tag traditionell als „Frühlingsfest“, die Wiener Arbeiterschaft marschierte erst ein Vierteljahrhundert später auf der Straße, davor war die Praterfahrt der Hofkaleschen mit huldvollem Winken des Kaiserpaares der Höhepunkt des Tages. Der endlose Zug der Kutschen fuhr vom Burgtor zum Donaukanal eine Straße entlang, die streckenweise einer gespenstischen Mondlandschaft glich: Neben bereits fertigen spektakulären Palästen sah man tiefe Baugruben, notdürftig mit Reisig abgedecktes Abbruchmaterial, wackelige Baugerüste. Die Wiener hatten sich an diesen Anblick gewöhnt, das ging schon Jahre so und sollte noch Jahrzehnte andauern. Doch die fertigen Gebäude waren bereits bewohnt, und so wurde an diesem Tag die offizielle Eröffnung der Ringstraße gefeiert, die einer ganzen Ära ihren Namen gab.

Neu-Wien, ein „Phantasiegebilde“

Alteingesessene Wiener rieben sich die Augen, nicht nur wegen des Staubs auf den Baustellen, sondern auch aus Staunen über das, was seit dem kaiserlichen Handschreiben von 1857 mit ihrer Stadt passiert war. Die Stadtmauern abgerissen, die von Müßiggängern und Verliebten so gern aufgesuchten Basteien demoliert, das Glacis rund um die Innere Stadt verbaut, die goldene, gemütliche Zeit schien endgültig vorbei, und es gab manche, die ihr nachweinten. Spazierengehen werde jetzt zu einem fortwährenden Abschiednehmen, seit der „Verschönerungsvandalismus“ hereingebrochen sei, klagt der populäre Feuilletonist Daniel Spitzer. Doch die meisten wurden durch die Vision einer groß angelegten Stadterweiterung mit einem Prachtboulevard nach Pariser Vorbild beflügelt, z. B. „Die Presse“, die sich über das kaiserliche Dekret vom 20. Dezember 1857 freute wie ein Kind über Weihnachten: „Wir speziell haben von Neu-Wien, das uns zu Weihnachten wie eines jener kleinen Stadtmodelle geschenkt wurde, womit man die Kinder überrascht, keine bestimmte Vorstellung; wir haben nur eine kindliche Freude an dem glänzenden Phantasiegebilde.“
Aus dem „Phantasiegebilde“ war binnen eines Jahrzehnts ein rasant wachsender städtebaulicher Komplex geworden, ein zentralistisches staatlich gelenktes Großprojekt. Die Stadt Wien war bei der Planung nicht eingebunden, so ging nicht immer alles konfliktfrei im Tauziehen um Trassenführung, Gehsteigbreiten, Parkanlagen und Alleebäume ab. Dazu kamen private Investoren, das Wiener Großbürgertum, die „zweite Gesellschaft“, die zu Reichtum gelangt war und diesen jetzt zur Schau stellen konnte. Das Geld, das sie für den Erwerb der bis dahin ungenutzten Grundstücke bezahlte, floss direkt in den Stadterweiterungsfonds, aus dem der Bau der prächtigen Hof- und Staatsgebäude finanziert wurde. Nur so wurde die Errichtung kostspieliger Bauten wie der Hofoper ermöglicht. 6,6 Prozent der Hausbesitzer am neuen Prachtboulevard kamen aus Kreisen des Hochadels, doch 23,3 Prozent waren Bankiers, Kaufleute oder Gewerbetreibende, der Rest Industrielle, hohe Beamte, Freiberufler. Ihre Investorentätigkeit kurbelte die Wirtschaft an, sie bauten zügig nach ihren eigenen Vorstellungen. Bei den staatlichen Bauvorhaben kamen hingegen Vorschläge in Hülle und Fülle, die alle vom Baudepartement des Innenministeriums gesichtet werden wollten. Darunter nicht nur geniale Entwürfe, „jedes Milliweib will mitreden“, so der Maler Friedrich von Amerling.

Stadthygiene für eine Million Wiener

Einmal dürfen wir noch die „Presse“ zitieren, die euphorische Begleiterin des Wiener Modernisierungsprozesses: „Eine rasch emporblühende Stadt von nahezu einer Million Einwohner übt auf die fernsten Kreise eine Anziehungskraft, der niemand zu widerstehen vermag.“ Damals, im April 1872, hatte die Bevölkerung bereits die Millionengrenze erreicht, und die Zuwanderung hörte nicht auf. Über hundert Jahre hindurch – bis etwa 1850 – hatte die Zahl der Einwohner in den engen Gassen der Inneren Stadt stagniert, jetzt aber wuchs die Bevölkerung in den Innenbezirken rasant um 50 Prozent, in den heutigen Außenbezirken vervierfachte sich ihre Zahl. Die städtebauliche Umgestaltung war also nicht zuletzt eine schlichte Notwendigkeit der demografischen Entwicklung: Diese ging vor allem auf das Konto von Zuwanderungsbewegungen aus Böhmen, Mähren und Österreich-Schlesien. Fast vierzig Prozent der Bevölkerung Favoritens stammte aus den böhmischen Ländern, die für die Bauwirtschaft unentbehrlichen „Ziegelböhm“, in den Innenstadtbezirken entfiel ein Achtel des Bevölkerungsanstiegs auf jüdische Migranten. Wien hatte großen Bedarf an Handwerkern, die großbürgerliche Schicht benötigte häusliches Dienstpersonal, die „böhmische Köchin“ wurde legendär.
„Mächtiger denn je zuvor regt sich in Wien der Trieb zur Verbesserung unserer seit Langem verwahrlosten städtischen Verhältnisse“ (ein kritischer Zeitungskommentar). Für viele war das Zeitalter sanitärer Not wegen der mangelnden Wasserqualität nicht mehr tragbar. Wie in anderen europäischen Städten auch erwies sich der Ausbruch von verheerenden Choleraepidemien in den dicht bevölkerten Stadtbezirken als „Lehrmeister der Stadthygiene“. Noch 1873 grassierte die Seuche in Wien, und das nicht nur in den Armenvierteln: Auch Wohlhabende starben. Im selben Jahr wurde die Erste Wiener Hochquellwasserleitung in Betrieb genommen, sieben Jahre später waren drei Viertel der Häuser damit versorgt.

Wien entwickelt sich zur Metropole


Das westeuropäische Fortschrittsdenken schien nun auch in Österreich-Ungarn Platz zu finden, im liberalen Bürgertum regten sich Siegesgefühle nach dem langen Kampf um eine Verfassung, sein neues Selbstverständnis dokumentierte sich in den Ringstraßenbauten, ruckartig explodierte der Gründerzeitkapitalismus. Das rief Euphorie bei vielen hervor. Burgtheaterdirektor Adolf Wilbrandt erinnerte sich: „Ich glaube, ein schöneres Jahrzehnt als die Siebzigerjahre hat Wien kaum gesehn.“
Manche der angedachten städtebaulichen und infrastrukturellen Veränderungen sind erst Jahrzehnte später ausgeführt worden. Was aber realisiert wurde, hat die Stadt bis heute nachhaltig verändert: Die mit atemberaubendem Tempo aus dem Boden gestampfte Ringstraße ist im Rückblick eines von vielen Megaprojekten in einer Epoche der Dynamik und Modernisierung. Wien entwickelte in diesen Jahren eine Anziehungskraft, der man sich nicht entziehen konnte, Aufbruchstimmung und Fortschrittsoptimismus sind der Basso continuo dieser Zeit und gleichsam das heimliche Motto der Panoramaschau „Experiment Metropole“ im Wien-Museum. Das Jahr 1873 wird gleichsam zum Kristallisationspunkt: Mit der Weltausstellung lenkt die Stadt erstmals seit dem Wiener Kongress wieder die Augen der Weltöffentlichkeit auf sich.

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