Tanzfieber: „Die wilde Lust ist losgelassen“

Künstlerkult. Künstler wie Hans Makart und Johann Strauß wurden zu den populären Lieblingen der bürgerlichen Gesellschaftsschicht. Man versüßte sich das Leben mit Vergnügungen, das Unterhaltungsbedürfnis war unersättlich.

Wenn der Besucher der Weltausstellung im Mai 1873 am Abend mit der Pferdetramway vom Pratergelände zur inneren Stadt fuhr, konnte es vorkommen, dass eine Gruppe von Passanten auf der Ringstraße seine Neugier weckte. Abend für Abend bildeten sich nämlich am noblen Parkring kleine Menschentrauben, sobald im ersten Stock des Palais, das die Nummer 4 trug, das Licht anging. Wer in Wien kannte es inzwischen nicht, das berühmte Eckzimmer des Industriellen und Kunstmäzens Nicolaus Dumba? Die flanierenden Passanten konnten nicht anders als hinaufzublicken in den prunkvoll eingerichteten Bibliotheksraum, um vielleicht einen Zipfel eines der Wandgemälde zu erhaschen. Unter den Bewunderern der Kunstkritiker Ludwig Hevesi, für ihn ist dieser Platz „eine der merkwürdigsten Häuserecken“ Wiens. Hans Makart, der künstlerische Leiter der Millionenstadt, der Künstlerfürst, einer der den Stil des Ästhetizismus mehr als jeder andere verkörperte, hatte im Auftrag des Industriellen Dumba das Zimmer mit überreicher Pracht an Malereien, Mobiliar, Schnitzereien und Zierrat eingerichtet. Erbaut wurde das Palais von dem Ringstraßenarchitekten Johann Romano, der sich nach seiner Nobilitierung folgerichtig „von Ringe“ nennen durfte und hier ein Denkmal des damaligen Prunkstils schuf.

Neureiche Prachtentfaltung

Das Eckzimmer, das Palais, die ganze Straße sind optischer Ausdruck der Werte einer gesellschaftlichen Klasse, nämlich jenes liberalen Großbürgertums, das, gestützt auf seine wirtschaftliche Stärke, die Gelegenheit wahrnahm, mit prächtigen Häusern seinen neu erworbenen Reichtum zur Schau zu stellen. Die Ringstraße wurde zur „Via triumphalis“ des gründerzeitlichen Wien, sie symbolisierte die steigende Bedeutung der sozial aufstrebenden Gesellschaftsschicht. Auch als Mäzene der Künste nahmen die neureichen jüdischen Bankiers, die Industriellen und Großbürger nun jene Funktionen ein, die früher der Adel innehatte. In allen Bereichen strebten sie danach, die frühere biedermeierliche Beengtheit abzustreifen und die alten feudalen Eliten zu übertrumpfen. Nun musste alles im großen Stil sein, es zählten Üppigkeit, Großartigkeit, Prachtentfaltung, und das alles in einem maßlos gesteigerten Tempo.

Überladene Wohnwelten, üppige Interieurs, reichlich Plüsch, Samtstoffe, eine dekorative Ansammlung von Textilien und Möbeln zu Raumbildern – der Historismus verfiel schon eine Generation später dem Verdikt der Geschmacklosigkeit, Räume wie diese würden wohl auch heute den Ruf nach Frischluft und geöffneten Fenstern hervorrufen. Die Menschen lebten in ihren Wohnungen wie in samtenen Schatullen, beschworen „Geschichtlichkeit und eine vermeintliche Tradition“ herauf, um als Aufsteigerschicht auf diese Weise ihren sozialen Status zu legitimieren (Wolfgang Kos im Katalog zur aktuellen Ausstellung im Wien Museum). Auch architektonisch drückten sie sich in der visuellen Sprache der Vergangenheit aus, mit historischen Assoziationen erhielt jedes Gebäude – Rathaus, Universität, Burgtheater, Parlament – die Stilmerkmale, die man für seine Funktion als angemessen erachtete.

Die finanzielle Sicherheit ermöglichte es der gehobenen Bourgeoisie, sich das tägliche Leben mit Vergnügungen zu versüßen. Symbol für diese Wiener joie de vivre war der Wiener Walzer, eine Hymne des Gleitens, die man ebenso sehr rühmte wie verurteilte. Für Durchreisende war die Tanzleidenschaft der Wiener ein befremdlich-pathologischer Zug: Wie konnte man nur? „Bacchantisch wälzen sich die Paare durch die Hindernisse, die wilde Lust ist losgelassen, kein Gott hemmt sie.“ So wie Makart in der Malerei wurde Johann Strauß (Sohn) der Star des Musiklebens, der in seiner ungeniert zur Schau gestellten Exzentrizität das Leben der vergnügungssüchtigen Gesellschaftsschicht widerspiegelte. In seiner Operette „Die Fledermaus“, in der sich von der Adelsschicht über die Bürgerlichen bis zu den Dienstboten hinab alle in einer Atmosphäre des Beschwingten miteinander vermengten, kam er dem Empfinden der Zeit unmittelbar nahe.

Dieselbe Vergnügungssucht und manische Lebenslust findet der Berliner Schriftsteller Julius Rodenberg, der 1873 die Weltausstellung besucht, im Unterschichtbezirk Neulerchenfeld, ein scheinbar krasser Widerspruch zur sozialen Wirklichkeit in den Vorstädten. Er findet „Haus an Haus ein Wirtshaus oder wenigstens eine Kneipe mit Localsängerinnen, Musikanten ... Da singt und klingt es durch die ganze Nacht.“ Volkssänger tragen in breitem Dialekt Lieder und Schlager vor, mit subversivem Schmäh, zweideutigen Zoten, junge und anständige Mädchen seien vor diesem „Tingeltangel“ zu schützen.

Zwischen Walzer und „Tingeltangel“

Die Topografie der Unterhaltung reichte vom Gartenbausaal am Ring, in dem die hoch vornehme Pauline von Metternich Bälle organisierte, um wohltätigen Zwecken zu dienen, bis hin zu den Tanzveranstaltungen in den übel beleumundeten Wirtshäusern der Vorstadt oder im Wurstelprater, wo es wimmelte von jungen Herren auf der Suche nach einem süßen Mädel: ein Terrain der Vermischung aller Stände. Die Spannweite der gesellschaftlichen Normen war breit: Erzherzogin Sophie, die Mutter Kaiser Franz Josephs, bestand darauf, dass die Kleider der Ballerinen in der Hofoper bis zum Knie reichten, während Johann Strauß in seiner „Fledermaus“ ungeniert den Seitensprung nicht nur pardonierte, sondern als Gipfel eines beschwingt-leichtfüßigen Lebensstils verherrlichte. Die Damenmode der Zeit verdeckte fast alle Körperteile, doch es wäre ein Trugschluss, das mit der Konvention der Tugendhaftigkeit in Verbindung zu bringen. Es war vor allem ein Vorwand, um die Kunst der Verhüllung mit besonderer Raffinesse zu betreiben.

Einen beachtlichen Anteil an der kulturellen Entwicklung hat die sich seit 1867 mächtig entfaltende Wiener Presse. Es gehört zum guten Ton der besseren Gesellschaft, eine renommierte Zeitung wie die „Neue Freie Presse“ zu abonnieren, auch wenn man ihre politischen Ansichten nicht immer teilte. Doch was soll's: Gesprächsstoff im Kaffeehaus und Salon lieferte primär das tägliche Feuilleton der Zeitung mit seinen Kunstdebatten. Der „Makart der Journalistik“ hieß Eduard Hanslick, ein gefürchteter Kritiker und Oberrichter der Musikszene, der sich kleidete wie ein Dandy und ständig irgendwelchen Frauen den Hof machte. Zum Amüsement trug seine jahrzehntelange erbitterte Abneigung gegen Richard Wagner bei, was ihn jedoch nicht daran hinderte, bei der Ausgestaltung der Wiener Hofoper auf einer Büste des Bayreuther Meisters zu bestehen. Zur ersten zyklischen Aufführung des „Ring des Nibelungen“ entsandte die „Neue Freie Presse“ im August 1876 nicht weniger als vier – notabene jüdische – Feuilletonkritiker nach „Wagnerisch-Bayreuth“, die Zeitung hatte damals eine geringere Auflage als die „Presse“ heute, aber offenbar deutlich mehr finanzielle Mittel.

„Phäaken und Feuilletonisten“ überschrieb der Kulturhistoriker William M. Johnston seine Analyse des Ästhetizismus im Wien der Gründerzeit. Die Entstehung einer Unterhaltungslandschaft und Populärkultur, von Johann Strauß bis „Tingeltangel“, ist heute nacherlebbar in der Ausstellung „Experiment Metropole“ (Wien Museum, bis 28. September 2014).

Wohndesign und Spaßkultur

Bürgerliche Mäzene. In den Jahrzehnten zwischen 1860 und 1880 erlebt das Kulturleben in Wien eine rasante Entwicklung. Der Hof Kaiser Franz Josephs war zu keiner Zeit ein Tempel der Musen gewesen, nun wird die Finanzierung von Kunst losgelöst vom kirchlichen und höfischen Mäzenatentum, es entsteht das Ideal des freien Künstlers. Maler und Bildhauer strömen im Zuge der Stadterweiterung in die Hauptstadt. Sie dekorieren die (bürgerlichen) Salons der neuen Ringstraßenpalais, errichten Denkmäler an der Prachtstraße. Wien wird ein bedeutendes Kunstzentrum, Hans Makart und Carl Rahl sind die Stars dieser Zeit. Typisch für die Zeit ist die Stilpluralität, die künstlerische Heterogenität. Das Spektrum reicht von der Spätromantik über den Klassizismus bis zum Neobarock.

Amüsierbetrieb. In der boomenden Musik- und Unterhaltungsindustrie regiert das Prinzip "Amüsement". Bühnenstars wie Josefine Gallmeyer und Marie Geistinger brillieren als Operettensängerinnen und spielen ihre körperlichen Reize aus. Musik begleitet den Alltag, alle Genres werden angeboten: vom gehobenen Singspiel bis zur Schrammelmusik. Die erfolgreichste, bis heute populäre Novität der Zeit: die Wiener Operette, sie begeistert durch Esprit und Übermut. Presse. Zeitungen werden für das gesamte liberale Bürgertum - vor allem für die assimilierten Juden - das zentrale Kommunikationsmedium.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2014)

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